<
>
Wird geladen...
Opposition in Ketten gelegt

Immer neue Festnahmen: Erdogans Repression trifft auf Europas Schweigen

von Redaktion

23.06.2025

| Lesedauer: 2 Minuten
Wenn in Ungarn ein Sack Reis in Orbans Vorgarten umfällt, ist der unmittelbare Aufschrei in Brüssel und Berlin gewiss. Der Istanbuler Bürgermeister und Ergogan-Herausforderer İmamoğlu ist seit Monaten inhaftiert, nun wurde sein Anwalt abermals verhaftet, ebenso wie einer der kritischsten Journalisten des Landes.

Seit Jahren herrscht in der Türkei ein permanenter Ausnahmezustand in Zeitlupe: Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 hat Präsident Erdogan systematisch Medien, Universitäten, Justiz und Verwaltung gesäubert. Zehntausende Menschen wurden entlassen, verfolgt oder verhaftet. Was vorgeschoben als Krisenintervention begann, ist längst zur Methode geworden: Opposition wird nicht bekämpft, sondern strukturell unmöglich gemacht.

Ekrem İmamoğlu, Bürgermeister von Istanbul und aussichtsreicher Oppositionskandidat für die Präsidentschaft, sitzt seit dem 19. März in Untersuchungshaft. Ihm wird unter anderem die Beleidigung eines Staatsanwalts vorgeworfen, dazu Korruption und Führung einer kriminellen Vereinigung. Ein Verfahren? Gibt es nicht. Eine Anklageschrift? Fehlanzeige. Dafür eine Bilderinszenierung der Einschüchterung: İmamoğlu in Handschellen, abgeführt von einem Großaufgebot an Polizei.

Im Zuge der Ermittlungen wurden auch Dutzende Mitarbeiter der Stadtverwaltung festgenommen. Über hundert Menschen sitzen inzwischen in Haft, darunter Bezirksbürgermeister, Berater, Verwaltungsangestellte. Selbst vor dem öffentlichen Zeigen von İmamoğlu-Bildern schreckt das Regime nicht zurück: Banner werden verboten, Plakate entfernt, „Free İmamoğlu“-Slogans kriminalisiert.

Inhaftiert wurde nun auch abermals sein Anwalt Mehmet Pehlivan. Vorgeworfen wird ihm unter anderem, er habe Ermittlungen gegen Zeugen beeinflusst und sei Teil einer kriminellen Organisation. Er selbst spricht von einer „juristischen Verschwörung“, seine Partei sieht einen gezielten Versuch, die gesamte Verteidigung zu delegitimieren. Wer İmamoğlu verteidigt, wird damit selbst zur Zielscheibe.

Der juristische Angriff gilt nicht nur dem Angeklagten, sondern dem gesamten rechtsstaatlichen Prinzip: Anwaltliche Tätigkeit für politische Gegner wird kriminalisiert, Verteidigung zur mutmaßlichen Mittäterschaft erklärt. Das trifft den Kern eines jeden Rechtssystems und wird in Europa dennoch eher mehr als weniger achselzuckend zur Kenntnis genommen. Solange keine Pride-Flagge abgehängt wurde, kommt der Empörungszug nicht mehr in Fahrt. Außerdem sind gerade alle Aufmerksamkeiten der linken Medienkamarilla auf das sich selbst verteidigende böse Israel gerichtet.

Zur dritten Zielscheibe der letzten Tage wurde Fatih Altaylı. Der Journalist und YouTuber mit 1,5 Millionen Abonnenten wurde wegen angeblicher Bedrohung und Beleidigung des Präsidenten verhaftet. Auslöser war ein Video, in dem Altaylı erzählte, dass das türkische Volk historisch nie bereit gewesen sei, die Macht ewig abzugeben und dass es auch heute für sein Wahlrecht kämpfen werde. Eine historische Einordnung, die zum Haftgrund erklärt wurde.

Altaylıs Fall zeigt, wie beliebig die Schwelle zur Kriminalisierung geworden ist. Ein geschnittener Clip reicht, ein empörter AKP-naher Geschäftsmann reicht und der Rechtsstaat tritt zurück, die Polizei vor. Dass sich besagter Unternehmer nach der Verhaftung öffentlich damit brüstete, Altaylı „festnehmen lassen“ zu haben, rundet das Bild ab: Die Willkür ist zur Währung der Macht geworden.

Was früher diplomatische Verwerfungen ausgelöst hätte, ruft heute keine internationale Reaktion mehr hervor. Drei zentrale Figuren der türkischen Opposition sitzen in Haft – und in Brüssel, Berlin oder Straßburg scheint es nennenswert niemand oder kaum jemand für erforderlich zu halten, das mit einem dicken Ausrufezeichen nach oben zu setzen. Erdogan bleibt wichtig: als Flüchtlingspuffer, als NATO-Stimme, als angeblicher und vorgeschobener Stabilitätsanker. Die Repression wird als „innenpolitische Angelegenheit“ still entsorgt. Hauptsache, er hat ganz lange Macrons Fingerchen beim Handschlag festgehalten.

Auch wenn die großen Straßenproteste vorerst abgeebbt sind – auf dem Campus, im Exil, in den sozialen Netzwerken regt sich Widerstand. Und İmamoğlu bleibt populär. In Umfragen liegt er vor Erdogan, seine Partei führt. Das eigentliche Urteil über diese Regierung könnte daher weniger im Gerichtssaal fallen als an der Wahlurne.

Bis dahin allerdings bleibt die Türkei ein Land, in dem Opposition ausgeschaltet wird – für jene, die sie wagen, und für ein Regime, das sie nur noch unterdrücken kann. Vielleicht ist der türkische Weg mit Oppositionellen zu verfahren allerdings auch ein interessanter für Vertreter in der EU und England, wo beginnende Parallelen nicht mehr sehr weit von der Hand zu weisen sind.

Anzeige
Ad
Unterstuetzen-Formular

WENN IHNEN DIESER ARTIKEL GEFALLEN HAT, UNTERSTÜTZEN SIE TICHYS EINBLICK. SO MACHEN SIE UNABHÄNGIGEN JOURNALISMUS MÖGLICH.

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

10 Kommentare

  1. Was wollen sie auch machen.
    Vermutlich kann Erdogan mehr Bewaffnete in Deutschland mobilisieren als Polizei und Bundeswehr zusammen.

  2. Eine Witz macht in der Türkei die Runde:
    „Ein Uni Professor in Istanbul sagt etwas, was Erdolfs Missfallen erregt. So kommt er vor Gericht und wird zu Gefängnis verurteilt. Dort, um die Zeit zu nutzen, gibt er eine lange Liste über gewünschte Bücher beim Gefängnisbibliothekar ab. Der schüttelt den Kopf und sagt er hätte die Bücher nicht. Aber die Autoren wären alle hier!“

  3. Erdogan tut das, was sich die EU-Machthaber und die in GB, D und F noch nicht trauen – fragt sich bloß, wie lange noch. Von diesen wird er in Wirklichkeit bewundert. Daher ist auch keine demokratische Reaktion zu erwarten.

  4. Worin besteht der große Unterschied zum Bestreben der EU? Unterdrückung der Opposition – indem man die demokratisch gewählte Partei AfD in Deutschland an der ihr zustehenden Postenverteilung hindert, indem man sogar Wahlen in Rumänien rückgängig macht. Ach was, Rumänien, in Thüringen war doch nichts anderes! Indem man Rentner heimsucht, die ihr legitimes Recht auf freie Meinungsäußerung und Kritik am Politadel ausdrücken bzw. in diesem Fall nur weiterleiten, an denen man ein Exempel statuiert? Indem man unliebsamen Kritikern die Konten sperrt und das nicht nur einmal?
    Himmel, Erdogan lebt doch nur vor, wovon die heimischen „Eliten“ träumen. Weshalb sollten die dagegen sein? Außerdem schwimmen eine Menge Islam-U-Boote in Regierungsgremien mit, da passt zusammen, was zusammen gehört!
    Nur einen positiven Unterschied zum EU-Gebilde, insbesondere der deutschen Gefilde, gibt es. Die Türkei drangsaliert ihre Bürger nicht mit Verbrennerverboten, Wärmepumpenzwang, maximaler Steuerlast und Hitzeschutzplan a la Klapsmühle. Erdogan haut nur bei Aufmucken drauf und lässt seine Bürger ansonsten in Ruhe…

  5. > Das eigentliche Urteil über diese Regierung könnte daher weniger im Gerichtssaal fallen als an der Wahlurne.

    Sofern nicht gemogelt wird. In Polen hat PO Anfang Juni verloren – schon rufen die nach Neuauszählung der in PO-Rathäusern aufbewahrten Stimmzettel, die man mittlerweile „optimieren“ konnte.
    Nun ja – es wurde bereits vorhergesagt, dass PO irgend etwas in die Richtung versuchen wird.

  6. Immer neue Festnahmen: Erdogans Repression trifft auf Europas Schweigen

    Jeder kehre vor seiner eigenen Tür – Volksweisheit
    Angesichts der Repressionen in der EU respektive dem „besten Deutschland aller Zeiten“ ruft die via Artikelüberschrift transportierte Empörung – muß jenem Substantiv das antidemokratische Adjektiv „zivilgesellschaftliche“ hinzugefügt werden? -, ein nahezu sardonisches Gelächter hervor.

  7. Vielleicht ist der türkische Weg mit Oppositionellen zu verfahren allerdings auch ein interessanter für Vertreter in der EU und England, wo beginnende Parallelen nicht mehr sehr weit von der Hand zu weisen sind.

    Mein erster Gedanke beim Satz „systematisch Medien, Universitäten, Justiz und Verwaltung gesäubert“

  8. Neid der europäischen und vor allem den deutschen Zensur-Aktivisten ist dem Erdogan gewiss.

  9. Richtig, Erdogans Machenschaften und totalitären Anmaßungen werden bewundernd von den anderen grünwoken Obrigkeiten der EU beobachtet und mehr und mehr übernommen. Am Ende jedes Sozialismus – sei er rot, braun oder grün – steht immer der gesellschaftliche Kollaps. Weil Sozialisten nur katabol können. Zu anderem sind sie nicht fähig.

  10. Wenn in Ungarn ein Sack Reis in Orbans Vorgarten umfällt, ist der unmittelbare Aufschrei in Brüssel und Berlin gewiss.“:
    Daran sieht man die Hackordnung. An wen trauen sie sich ran, weil sie ihn als schwächer einschätzen. Und vor wem haben sie Angst, weil sie ihn als stärker und gefährlich einschätzen.

Einen Kommentar abschicken