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Individuell normiert

Mein ganz persönlicher Stil – Pathos und Palaver

19.09.2018

| Lesedauer: 3 Minuten
Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen scheinen glücklich, wenn sie einer Gemeinschaft angehören können – welcher Gemeinschaft auch immer: einer Nation, einer Stadt oder der Apple-Community – und sie hegen ein tiefes Unbehagen, wenn andere dies nicht ebenso empfinden.

Wenn ich in nächster Zeit noch eine Illustrierten-Homestory mit weißer Wohnung, String-Regalen, Eames-Chair und Pantone-Lampe aus Berlin, München, Düsseldorf oder Hamburg und dem Spruch „An diesem Ort lebe ich meinen ganz persönlichen Stil“ sehe, dann wird es Zeit, seine Teilhabe an der modernen Welt offiziell zu kündigen.

Allenthalben versteht sich der Mensch als Individuum: Alles wird neu und ganz anders nur durch seine Präsenz. Die sogenannte Kreativwirtschaft finanziert durch ihre Backpacker-Reisen, Sushi-Konsum und Yoga-Kurse in der Algarve mit freien Blick auf das Meer mit der Realisierung des Wunsches „jedem Kunden sein maßgeschneidertes“ Produkt zu bieten: Das individuell konfigurierte Auto, Müsli, Kinderbuch und Pizzagebäck. Der Digitalisierung sei Dank hämmern wir stürmisch unsere irdischen Wünsche („Drei Gramm mehr Amarant in mein Müsli …“) in die Konfigurationsfelder der Bestellformulare und machen uns eigentlich nur klar: Ich bin etwas ganz Besonderes, ich entsage dem Standard. Ja, an sich ist der Mensch ein äußerst bescheidendes Wesen (geworden). Was soll der verzagte Mensch auch tun, um zumindest das kleine Gefühl von Glückseligkeit zu erfahren – Revolutionen dauern heute noch nicht einmal mehr einen Sommer … Marketingstrategen wissen, dass die wenigsten Menschen tatsächlich Produkte individualisieren: 1% individuelle Produkte sind bei einem Hersteller ein sehr guter Wert. Auf den deutschen Straßen fahren eher selten grüne, gelbe oder lilafarbene Autos durch die Gegend, obwohl es doch möglich wäre, aber die Wirklichkeit sieht eher traurig aus: Schwarz, grau und dunkelblau – natürlich nur wegen dem Wiederverkaufswert und der Firmenwagenvorschriften.

Individualität (lat. für Ungeteiltheit) wird verstanden als die Vorstellung eines einmaligen, unkopierbaren, unverwechselbaren Lebewesens im Ergebnis des Zusammenwirkens aller wahrnehmbaren Merkmale. Der gute Soziologe Georg Simmel ging bereits vor mehr als 100 Jahren davon aus, dass eine zunehmend industriell-entwickelte Welt die Anzahl der Individualisierungsoptionen vergrößere, aber eben nicht die Individualisierungstiefe. Das Gefühl und der Wunsch von bzw. an Individualität bleiben nur Gefühle und Wünsche, die den modernen Menschen jedoch nicht wirklich kennzeichnen. Individualität wird gedacht, aber nicht realisiert. Im Gegenteil: Je normierter Lebenswege und Alltag die Vorstellungen beeinflussen, ein klares „Richtig oder Falsch“ vorgeben, desto stärker sind die Versuche Einheitlichkeiten zu überdecken – und weil unser Zeitalter bescheiden ist, kommen wir mit eigenerdachten Spotschuhen oder Tapetenfarbe aus. Eigentlich ein alter Hut. Martin Heidegger schrieb: „Jeder ist der Andere und Keiner er selbst.“

Es ist mitnichten so, dass sich hinter der Fassade der Wareninflation ein Feuerwerk der Vielfältigkeit verbergen würde. Viel eher erweist sich bei näherer Betrachtung von Menschen die verheerende und bisweilen aufs Gemüt drückende Erkenntnis der Gleichartigkeit. Von den ca. 100 Milliarden Menschen, die bisher auf diesem Planeten gelebt haben, waren und sind die wenigsten wirklich bahnbrechend „anders“. Man mache sich nichts vor: Zum Schluss geht es darum, ein Haus am See zu bauen, gut einzukaufen, das Gewicht einigermaßen zu kontrollieren und (vielleicht) irgendwann Kinder zu bekommen. Die Füllzeit dazwischen reichern wir mit allerlei exotischen Reisen zunächst mit und dann ohne Rucksäcke, Tandemflügen und Kreisligafußballspielen an – gut versichert natürlich …

Die vorherrschende Stimmung unserer Epoche ist dennoch, dass es noch nie so einfach war, Individualität vorzugeben, obwohl sie gleichzeitig noch nie so unerreichbar war wie heute. Vor 2000, also der alles offenbarenden Digitalisierung, lebten die Menschen in dem Gefühl, einzigartige Wesen auf diesem Planeten zu sein, Seelen, deren Geschichte über sieben Jahrzehnte oder mehr verlief. Heute leben wir mit dem quälendem Gefühl, dass wir eine Unit Mensch unter 7 Milliarden Units Mensch sind.

Der kanadische Autor und Künstler Douglas Coupland schrieb vor einigen Jahren über den Trend zu „normcore“ (d.h. „Normalsein in hardcore“). Das englische HEAT Magazin schrieb seinerzeit: „Normcore feiert das Normale mit billig erscheinenden, Stonewashed jeans, T-Shirts vom Grabbeltisch und Sandalen, deren schlechtgemachte Ähnlichkeit zu Markenprodukten gewollt ist. Es ist die Antwort auf die Hipster-Marotten unserer Zeit, aber viel mehr noch auf die Modeansprüche unserer Generation.“

Normcore macht den Träger unsichtbar: Er hüllt sich in totale Anonymität, um den Anspruch und der Verantwortung, „originell“ und „individuell“ zu sein, zu entkommen. Normcore bedeutet: „ Ich bin frei, weil ich nicht einzigartig bin. Ich bestrafe die moderne Welt mit meiner Unsichtbarkeit, und wenn du meine Metadaten analysierst, dann bist du eingeschlafen, bevor du irgendetwas „Originelles“ finden kannst.“

Machen wir uns nichts vor: Die meisten Menschen scheinen glücklich, wenn sie einer Gemeinschaft angehören können – welcher Gemeinschaft auch immer: einer Nation, einer Stadt oder der Apple-Community – und sie hegen ein tiefes Unbehagen, wenn andere Menschen dies nicht ebenso empfinden. Ob das gut oder schlecht ist, mag jeder selbst beurteilen. Aber: Vor 100 Jahren konnte man sich (fast) sicher sein, dass das Leben der Enkel genauso verlaufen würde wie das eigene. 2018 ist klar, dass 2025 anders, vielleicht sogar beängstigender sein wird als jetzt. Was kaufen wir uns im Hinblick auf diese Prognose?

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27 Kommentare

  1. Wahre Individualität kann man nur in der Entsagung und echten Reduktion erfahren. Hedonisten sind heutzutage links, verlieren sich in der Vermassung, sind Pseudoindividualisten. Echte Patrioten hingegen widerstehen der Verführbarkeit durch überflüssige Konsumreize und konzentrieren sich auf das Notwendige, die Essenz, das Unverzichtbare. Die linken Hedonisten sind die echten Modernisierungsverlierer. Sie wissen es nur noch nicht. Gruß aus der Filterblase.

  2. Das geht so lange gut, bis einer in den Cocon eindringt und die feingesponnenen Fäden brutal zerreißt. Und die Raupe rausholt.

  3. Das Ende wäre nach wenigen Wochen Hungerkriege, wenn Bauern nicht mehr Lebensmittel herstellen, die über funktionierende Märkte mittels Firmen (Investoren) transportiert, hergestellt und verteilt würden. Auch kein Polizist würde Sie mehr beschützen, denn er bekäme kein Salär.

    Überlegen Sie auch mal, wie sie zu Ihrem Kaffee und Obst kommen, dass per Schiff um die halbe Welt transportiert wurde. Haben Sie ein Smartphone Vergessens sie es, denn es hätte kein Netz, keinen Strom und keine Daten…

  4. Der Cocooning-Trend in Amerika ist vermutlich schon eine Antwort darauf, was sich die Leute wünschen, wenn die Perspektiven nicht mehr so rosig sind. Herr Goergen hat kürzlich bei TE den Rückzug in die innere Emigration beschrieben bei zunehmend empfundener politischer Perspektivlosigkeit. Der Rückzug in die Scheinwelt sozialer Netzwerke, in phantastische interaktive Spielwelten und sonstige Gruppenzugehörigkeiten wird ebenfalls zunehmen, die Homestory findet dann überwiegend im Kopf und in den digitalen Welten statt und die Resonanz kommt ebenfalls aus dem digitalen Gerät. Wir sollten in Hinblick auf solche Prognosen also unbedingt in stabile Stromversorgung investieren, um das digitale soziale Umfeld zu erhalten. Nicht jeder hat Haus, Garten und gute Nachbarschaft, um sich seinen kleinen Kosmos zu schaffen.

    • Es gab schon mal eine Phase des Rückzugs ins Private, den Biedermann. Nur haben wir jetzt nicht einmal mehr den Rückzugsraum Familie weil die Linke jedes Gebiet zwangsläufig kolonisiert und für sich manipuliert. Wer sich heute „einfach nur“ um seine Familie, so mit Mann/Frau/Kind/Hund, kümmen will ist bereits ein Nazi.

  5. Die Verhaltensweisen die Sie beschreiben betreffen nur Leute mit infantil-ungefestigtem Charakter.

  6. Oh, oh – selten hat ein Artikel meinen Widerspruch mehr herausgefordert. 😉 Selten war es aber auch so schwierig, darauf eine schlüssige Antwort zu geben.

    Daran, daß wir Individuen sind, zweifle ich nicht. Auch nicht daran, daß Jeder seine Individualität auf seine ganz persönliche Weise auslebt und nach aussen darstellt. Dabei mag es zu mehr oder weniger gravierenden Überschneidungen mit anderen Individuen kommen. Das tut aber der gefühlten Individualität keinen Abbruch. Keinesfalls werden wir m.E. dadurch zu „einer Unit“ unter „7 Milliarden Units“. Ein Teil der Individualität mag verloren gehen, sobald man sich ideologisch festlegt. Das betrifft aber nur einen Teil und niemals die ganze Einzigartigkeit des einzelnen Menschen.

    Glauben Sie wirklich, die Menschen vor 100 Jahren waren sich „eines vorgezeichneten Lebensablaufes“ sicherer als heute? Mag sein, daß Sie es so empfinden – mit meiner Empfindung stimmt das nicht überein. Jede Zeit hatte ihre eigenen Paradigmenwechsel, die dafür sorgten, daß man sich nur Eines wirklich sicher sein konnte: nämlich des Wechsels und der Unsicherheit hinsichtlich der Zukunft. Als Gemeinschaft und als Individuum.

    • Selbst wer „voll das Individuum“ ist und den totalen Null-Bock hat braucht die Gesellschaft. Auf die Interaktion mit der Gesellschaft zum Bezug von Hartz 4 reicht es. Auch will er Infrastruktur wie Straßen und Geschäfte nutzen. Und sich im Dunklen nicht „Messern“ lassen und zum Arzt gehen.

  7. Kaufen sollte man sich entweder Onewaytickets, um weit weg von Europa zu landen oder alternativ einen Revolver, was ja verboten ist. Es bleibt also das Ticket.

    • Ein wenig Aufwand ist es schon, aber in Deutschland einen Revolver legal zu besitzen ist an sich kein Problem.

      • Das ist richtig. Um jedoch die Berliner Politik schlagbolzenartig zu ändern, müsste man gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz verstoßen. Aber wer will das schon…

  8. Frage: Herr Errichiello wird von TE u.a. als „Fachmann für …grüne Markenführung“ beschrieben. Darf man erfahren, was damit gemeint ist? Dass ich von den Beiträgen des Herrn E. nichts halte, habe ich bereits kundgetan. Das ist bloß meine Privatmeinung, die soviel und sowenig wert ist wie jede andere. Aber welchem nicht längst in o815-Medien bedienten Erkenntnisinteresse dienen die Artikel von Herr E. aus Sicht von TE?

    • Ich finde den Artikel sehr interessant – sowohl aus privater, als auch aus beruflicher Perspektive.

  9. Nervende Individualisierung an der falschen Stelle: Ich will auch gern als Individuum behandelt werden. Von meinen Freunden. Aber nicht vom Coffee Shop, wo es mich nervt, 1000 Fragen zu beantworten, bevor ich meinen Kaffe kriege, und auch nicht von meinem Müsli-Lieferanten.

    Mein Gefühl ist: Die Mühe der Entscheidungen in Belanglosigkeiten raubt mir die Kraft, mich dort auf meine Individualität zu besinnen, wo es wirklich zählt.

    • … würd‘ da zu gerne mal ausflippen.
      Kaffee. Schwarz. – Sofort und keine Widerrede! ?
      Wenigstens in meiner Fantasie –

  10. HERDENTRIEB wer wenig Hirn und noch weniger Mut hat ordnet sich gern dem Mainstream unter. Das Schwimmen mit dem Strom, das Bohren dünner Bretter, der Weg des geringsten Widerstands, sie scheinen dem Spießer, dem Kleinmütigen und Kleingläubigen (bei dem alles klein ist) der bequemste und sicherste Weg zu sein. Der Massenmensch hat wenig Individualität, denn dafür würde er Intelligenz, Ich-Stärke und Unangepasstheit an der richtigen Stelle und situativ angemessen (also nicht mechanisch) benötigen. Das Psychogramm des typischen Spießers von heute: er ist linksgrün gehirngewaschen, (re)produziert mechanisch und papageienhaft alles was ihm die linksgeschalteten Mainstreammedien servieren. Es ist ein Mysterium, oder vielleicht sollte man besser sagen, eine Art gesellschaftlicher Krankengeschichte ohne genaue Diagnose, wie es dazu kommen konnte, dass 30 Jahre nachdem der Kommunismus überwunden und besiegt schien fast eine ganze Gesellschaft (die ganze? Nein, eine kleine Schar von 12,6% Mutbürgern widersetzt sich heldenhaft, und man wünscht sich so sehnlich, dass es mehr werden!) in die linke Falle getappt ist. Der petit-bourgeois de gauche, er beherrscht heute die Stammtische, ist angepasster Mutti-Wähler, auf dem schläfrigen Trip in die weitere Verweiblichung (das Östrogen nimmt bei ihm immer mehr den Platz des Testosterons ein, er wird immer mehr vom Falken zum Gimpel, vom Stier zum Ochsen). Es ist der ewige, angepasste, schnarchsäckige Spießer, wie ihn Ödön von Horvath in seinem gleichnamigen Roman beschreibt. Auf dem Weg durch die Institutionen sind die Alt-68-er zur schlimmsten Spießerverkrustung erstarrt, die das Land je erlebt hat. Bleischwer lastet sie auf allem, das von ihr angestiftete Chaos hat sich verselbstständigt, rollt wie Dampfwalze alles nieder was einen Rest von Anmut hat.

    Der Held ist anders, er widersetzt sich, sieht es als sportliche Herausforderung gegen den Strom zu schwimmen um an der richtigen Stelle ans Ufer zu gelangen. In diesem Land wählt er blau. Rot, schwarz, grün, dunkelrot und braun überlässt er anderen. Der Held ist ein echter Neuerer, weiß was läuft, hat den Mut sich seines EIGENEN (!!) Verstandes zu bedienen-er lässt sich nicht von Mainstreammedien blenden und von der linksgrünen Meute befehlen was er zu denken hat. Beim Held rauscht das Testosteron frei durch die Adern, er spottet über Genderkram und andere gesellschaftliche Verirrungen-denn er kennt ja den Weg aus dem Labyrinth heraus. Es ist das Symbol für Männlichkeit (ja, ich würde sogar so weit gehen, den hehren Begriff der „Manneszierde“ zu bemühen), der Pfeil geht nach oben!

  11. Generell habe ich eine Abneigung gegen Texte, die im gouvernantenhaft-belehrenden „Wir“-Stil verfasst sind und den Leser wie selbstverständlich in etwas „eingemeinden“, was vielleicht nur das Milieu des Verfassers darstellt. Dieser zählt vermutlich keine Bauarbeiter zu seinem Bekanntenkreis, die es sich schlicht nicht leisten können, dem konformen Individualismus zu huldigen, wie er hier in bedeutungsschwangeren Worten angeprangert wird.

    Historischer Unfug ist übrigens die Aussage: „Vor 100 Jahren konnte man sich (fast) sicher sein, dass das Leben der Enkel genauso verlaufen würde wie das eigene.“

    Ein erwachsener Mensch hatte im Deutschland des Jahres 1918 bereits grundstürzende Veränderungen seines Lebensumfelds hinter sich, die wir uns nicht annähernd vorstellen können: Automobil, Fliegerei, mechanisierter Krieg, Giftgas, Lebensmittelblockaden usw. Weitere teils noch drastischere Umbrüche sollten folgen und waren nach dem Versailler Vertrag für jeden politisch denkenden Menschen unausweichlich.

    Übrigens war damals die aktuell mal wieder hochgeschriebene Elektromobiliät bereits ein alter Hut, mit Telegramm und Telefon konnten immer Menschen in Echtzeit kommunizieren, mittels Tonaufzeichnungen konnten sich die Leute ihre Wunschmusik ins Haus holen. Der entfernteste Winkel des Landes war per Eisenbahn erreichbar, Frauen durften endlich studieren und wählen – das alles innerhalb von nur einer Generation, die noch in der Agrargesellschaft großgeworden war.

    Gegen die Inflationszeit und die Weltwirtschaftskrise der 1920er Jahre war die sogenannte Finanzkrise 2007/08 ein Fliegenschiss in der Wirtschaftsgeschichte. Echte Innovationen gibt es heute kaum noch (abgesehen von Geldautomat, Internet und LED) und die Produktivität stagniert deshalb seit Jahren – aber klar: Erst heute verändert sich alles so rasend, und erst heute kennt man das Gefühl, nur noch getrieben zu sein, man ist ja so wahnsinnig modern, weil man sich jedes Jahr ein neues Telefon von Apple kaufen und wie in den 80ern Jeans mit Löchern ab Werk bestellen kann…

    • Ich glaube, Sie haben den Artikel falsch verstanden. M.E. nimmt der Autor ja gerade diese bekloppte „Individualität“ der Millionen mit Standardprodukten auf’s Korn. Ein gutes Beispiel dafür sind auch diese wahnsinnig individuellem Tattoos, vom Chefarzt bis zur Friseuse- alle sind von Kopf bis Fuß mit Katalogbildchen tätowiert, um damit ihre ganz unverwechselbaren, persönlichen Erlebnisse ( die keinen interessieren) lebenslang öffentlich zur Schau zu stellten. Von echten Innovationen ist in dem Artikel doch nirgends die Rede, eher davon, wie sich die Massen mit Quatsch abspeisen lassen.
      Und vor hundert Jahren haben die Menschen tatsächlich geglaubt, sie könnten das Leben ihrer Enkel grob voraussagen. Ich hab das noch vor 10 Jahren geglaubt – erst heute weiß ich, dass das nicht möglich ist.

      • Ich musste schmunzeln, als Ihre Einlassungen zu den Tätowierungen las. Da haben Sie aber den Nagel auf den Kopf getroffen, und wie !

    • Schön, dass Sie diese Epoche um 1918 ff. erwähnen. Die ist nämlich völlig in Vergessenheit geraten, als habe es sie nie gegeben. Einem Hartz-IVer von heute geht es nicht annähernd so schlecht wie den meisten Menschen der Jahre 1918 bis 1923. Wer weiß denn schon noch, dass die englische Seeblockade n a c h (!) dem Krieg 1918 tausenden Hungernden in Deutschland den Tod brachte, nicht zu vergessen die tödliche Grippeepidemie 1920. Über die inszenierte Individualität von heute kann man entweder nur lächeln oder weinen. Man begebe sich nur ein einziges Mal am Wochenende in eine der Partyzonen einer deutschen Metropole und schaue der deutschen Jugend bei ihrem Treiben zu, insbesondere zu vorangeschrittener Stunde, wenn Alkoholpegel und Fressattacken ihren Kulminationspunkt erreichen. Einschließlich Kleidungsstil ein einziger großer Ausverkauf von Selbstentwürdigung, Dummheit und Degenerierung. Dagegen ist jeder Straßenkehrer, der brav die Hinterlassenschaften dieser Spaßgeneration beseitigt, in seiner orangen Arbeitskleidung ein wahrer Individualist. Manchmal bringt erst Not und Elend so manche Generation wieder auf Kurs, so traurig das auch ist.

  12. Berechtigte Frage. „Was kaufen wir uns im Hinblick auf diese Prognose?“
    .
    Als Endzeit-Konsument, also posthum, das Privileg auf Senkrechtbestattung – … Einsteigermodell Pathos, platzsparend und richtungsweisend.

    //Meine Güte!

  13. Ich habe schon öfter gehört, dass junge Leute sich nichts sehnlicher wünschen als ein total
    angepasstes Leben. Halte ich für eine natürlich Reaktion des zunehmend bunteren und chaotischeren Lebens, auch in Deutschland. Umgekehrt war es in meiner Jugend und vieler Anderer, bloß nicht so werden wie die Alten, am besten was machen was noch keiner gemacht hat. Der Trend ist aber auch noch nicht tot, sondern wird z.B. in Extremsportarten ausgelebt. Um seine eigene Individualität zu entwickeln, braucht man halt beides, Sicherheit (Schutz vor Krieg/Gewalt/Hunger) und Freiraum im Sinne von weniger Reglementierung. Die Dosis macht das Gift. Nach der Überbetonung des Singledaseins mit freier Partnerwahl, geht der Trend zu Familie und trautem Heim.
    Was kaufen wir, wenn die Situation noch beängstiger wird? Na Waffen und Klamotten in denen wir sie verstecken können, es geht zurück ins Martialische. Das ist aber ein anderer Trend, aber vielleicht wird er Mode.

  14. Ich bin beim Lesen dieses hervorragenden Artikels gar nicht mehr aus dem Kopfnicken herausgekommen. Vielen Dank dafür, daß ist so treffend, wahr und richtig. Ich bin Jahrgang 1963, in den frühen 80ern erwachsen geworden. Damals war unser größtes Ziel, sei individuell, ja, sei Individualist. Sei kritisch, Pass Dich auf keinen Fall an. In Kleidung, Meinung, Denken, Musikgeschmack, Geisteshaltung etc.: Sei auf jeden Fall individuell, sei unabhängig, sei unbedingt kritisch, weil Du damit Freiheit, Selbstständigkeit erlangst. An der heutigen Gesellschaft begreife ich nicht, dass die allermeisten denken, sie wären so „cool“ und individuell, aber in Wahrheit sind sie geistig uniformierter als jede Armee. Politisch sowieso, wie oft wurde auf dieser Seite und anderen kritischen Websites abseits des Mainstreams schon korrekt festgestellt, dass alle gleich denken (sollen) und täglich Diversität und Vielfalt gepredigt, ja aufoktrojiert wird, aber in Wahrheit Gleichmacherei herrscht. Wer sich der Massenmeinung entzieht, wird ausgereizt, obwohl doch Inklusion das Motto ist. Täglich kämpfe ich darum, Denkzwängen zu entgehen und Denkverbote aufzubrechen. Dabei sind Medien im Gegensatz zu früher absolut nicht mehr „hilfreich“, Beispiel SPIEGEL . Am Schluss ein banales Beispiel für die alltägliche Gleichmacherei, der sich vor allem junge Menschen freiwillig unterwerfen: online und in Geschäften kann man hunderte verschiedene Brillen erwerben, aber die Allermeisten entscheiden sich für das Standard-Uniform-Brillenmodell schwarz, dick, rund, groß. Auch in Werbeanzeigen sieht man fast ausschließlich diese Variante. Ich befürchte, der junge Mensch hat Angst, auszuscheren und mal einfach eine andere Brille zu tragen. Der Gruppendruck muss fast unerträglich hoch sein. Dies gilt auch für das politische Meinen und Denken. Um Prinzip ist dies ein Armutszeugnis, dies führt zu Verengung des Denkens, zu einer Gesellschaft mit Tunnelblick, die Intoleranz gegenüber geringfügig anderen Meinungen als normal empfindet und stark abweichendes, häufig aber auch schon leicht zweifelndes Denken und Infragestellen für Teufelswerk hält. Ich habe Angst davor, dass dies in inquisitorischen Eifer kippt. Aber eigentlich ist dies ja schon geschehen, schaut man sich bestimmte Talkshows und Zeitungsartikel an. Insofern habe ich in den letzten zwei Jahrzehnten immer mehr resigniert. Schade, aber täglich mehr sehne ich mich nach den freien, individuellen 80er Jahren zurück, als der Begriff „betreutes Denken“ noch nicht existierte und Bevormundung ganz klein geschrieben wurde. Und als die Abkürzung PC noch kein Schreckgespenst war wie heute. Frei und in seinem Wunsch nach Freiheit ernstgenommen fühlt man sich heute nur noch auf TE, Achgut *********

    • Guter Kommentar! Ich, in den 60er geboren, habe mich vor kurzem mit einer 28- jährigen unterhalten. Meine Frage war, ob es die jungen Leute nicht stört, wenn die Freiheitsrechte, insbesondere die Meinungsfreiheit immer weiter eingeschränkt würden. Die Antwort war, kurz gefasst, dass sie selbst sich nur als Teil eines großen Ganzen sehe. Existenzielle Nöte habe sie nie kennengelernt, Essen, Wohnraum, Kleidung etc. sei immer vorhanden gewesen. Lief und läuft doch alles, also kann die Politik ja nicht falsch sein. Sie selbst sehe sich aber aber als individuellen Menschen, der sein Leben so gestalte, wie es ihr gefalle.
      Individualität scheint damit nur noch als optisch wahrnehmbare Abgrenzung verstanden zu werden (wobei das bei ihr tatsächlich stimmt). Ansonsten gilt anscheinend eine Schwarmmeinung, die unreflektiert übernommen wird. Innere Individualität wurde nicht entwickelt. Ich habe für mich entschieden, dass ich mich nicht mehr über die unkritische Verhalten der jungen Generation (aber auch der älteren) ärgern werden. Sie werden mit den Konsequenzen ihrer unkritischen Anpassung länger leben müssen (im Vergleich zu mir)!

  15. Sind Sie sicher, dass die Menschen von heute so individuell sind? Wenigstens 80% sind doch mit dem zufrieden was aufgetragen wird, und hat keinen geistigen Background! Mir drängt sich da schon zwangsweise der Verdacht auf, dass bei der Bundestagswahl auch die Zeugen Jehovas eine echte Chance hätten, wenn sie sich nur ein rotes, oder grünes Logo zulegen würden. Mit Schulbeginn werden die Kinder gehirngewaschen und programmiert, als Kinder schon in die nächste Mosche zum Imam geschickt, und mit dem ersten Handy ist alles zu spät. Verzeihung, nicht Handy sondern Smartphone. Damit fangen alle schlechten Gewohnheiten an, die letztlich das Leben zerstört, und Menschen zu Lemmingen, heute Followern macht.

  16. …String-Regalen, Eames-Chair, das sagt mir gar nichts. Ich gehe lieber Walnüsse sammeln. Es ist jetzt Walnusszeit !

    • Machen wir auch. Wir sind eben auch ganz individuell, öhm 😉

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