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Zeitzeichen

Londoner Chaos-Tage: Boris Johnson zwischen allen Stühlen

14.11.2020

| Lesedauer: 3 Minuten
Nigel Farages ehemalige Brexit-Partei, die inzwischen unter "Reform UK" firmiert, nutzt die Gunst der Stunde, um Millionen Briten für sich zu gewinnen, die ein baldiges Ende der Corona-Beschränkungen fordern.

Dominic Cummings ist Politikberater. Nicht irgendeiner. Cummings gilt als Architekt der erfolgreichen Brexit-Kampagne. Seit Boris Johnsons Amtsübernahme wirkte er als Sonderberater des britischen Premierministers. Nun hat Cummings seinen Rückzug angekündigt. Am Freitagabend verließ er mit einer Kiste seiner Habseligkeiten den Regierungssitz.

Zwei Tage vor Cummings war dessen Intimus Lee Cain als Kommunikationschef abgetreten. Beide hatten innerhalb des Kabinetts wenig Rückhalt und agierten zuletzt eher unglücklich. Damit verliert Johnson zwei seiner engsten Vertrauten – und Großbritannien erlebt inmitten der größten Herausforderungen seiner Nachkriegsgeschichte eine veritable Regierungskrise. Die Einbeziehung des parteifremden Cummings in den engsten Zirkel war immer wieder auf Kritik aus den eigenen Reihen gestoßen, nicht etwa wegen dessen Zeit in Russland, wo sich der fließend Russisch sprechende Oxford-Absolvent Mitte der 1990er Jahre als Geschäftsmann versucht hatte, sondern weil der ausschließlich in Projekten denkende 48-Jährige aus seiner Verachtung für den Politikbetrieb nie einen Hehl machte.

2019 wurde er von der Einsicht in bestimmte Regierungsangelegenheiten ausgeschlossen, was Boris Johnson allerdings nicht davon abhielt, an seinem „Mastermind“ festzuhalten. Er verteidigte Cummings auch gegen massive Rücktrittsforderungen, nachdem dieser bei mehreren Verstößen gegen die strikten britischen Corona-Beschränkungen erwischt worden war. Das Wort des umtriebigen Johnson-Beraters hatte lange Gewicht, zuweilen gar so viel, dass er Spöttern als heimlicher Regierungschef galt. Nun hat Johnsons engster Vertrauter hingeschmissen. Der Abgang ist der vorläufige Schlusspunkt eines Machtkampfes, der seit Wochen schwelte und lange kaschiert werden konnte.

Gewonnen hat ihn Johnsons Lebensgefährtin Carrie Symonds. Die 32-Jährige Politaktivistin wird von führenden Mitgliedern der Konservativen Partei wegen ihres enormen Einflusses auf den 24 Jahre älteren Johnson mit Argwohn betrachtet. Der wirkte zuletzt wie ein Spielball seiner sich im Widerstreit befindlichen Entourage, hin- und hergerissen zwischen der Loyalität zu seiner Partnerin und den Überzeugungen seiner Brexit-Weggefährten. Sein Schlingerkurs in der Corona-Krise hat seiner einst großen Popularität ebenso geschadet wie die Wahrnehmung, er habe wertvolle Zeit für das Aushandeln eines bestmöglichen Handelsvertrages mit der Europäischen Union vergeudet und sich in fragwürdigen Parlamentsinitiativen verheddert. Das Corona-Jahr hat tiefe Spuren hinterlassen – nicht nur beim Premierminister selbst, der im Frühjahr tagelang auf der Intensivstation zubrachte, sondern vor allem in dessen Kabinett, das nicht nur den Brexit, sondern auch die von den Corona-Maßnahmen hervorgerufenen enormen wirtschaftlichen Verwerfungen in den Griff bekommen muss. Ohne Cummings steuert Großbritannien nun auf eine völlig andere Regierungspolitik zu. Mit ihm und Cain sind die Verfechter eines kompromisslosen Kurses gegenüber der ungeliebten EU von Bord gegangen. Es gilt nunmehr als wahrscheinlich, dass sich Johnson Brüssel in den strittigen Punkten beugen und einen für das Vereinigte Königreich weniger vorteilhaften Deal akzeptieren wird. Sein „Binnenmarktgesetz“ zur einseitigen nachträglichen Änderung der ausgehandelten Verträge mit der EU hatte das Oberhaus ohnehin unlängst zum zweiten Mal abgeschmettert.

Aber nicht nur in Sachen Brexit wird London nun neue Töne anschlagen. Auch der Corona-Kurs der Regierung wird sich ändern. Sah es gerade noch so aus, als würden jene die Oberhand gewinnen, die in der britischen Regierung für eine baldige Lockerung der rigiden Maßnahmen eintreten, gibt es nun keine Zweifel mehr am Festhalten am landesweiten Lockdown. Dieser war für viele Briten überraschend gekommen, hatte doch Johnsons Regierung die Bürger kurz zuvor noch aufgefordert, in die Normalität des Arbeitsalltags zurückzukehren. Johnsons Schwäche ist die Chance für einen alten Bekannten, der es schon einmal vermocht hatte, eine britische Regierung vor sich her zu treiben: Nigel Farage ist zurück.

Dessen ehemalige Brexit-Partei, die inzwischen unter „Reform UK“ firmiert, nutzt die Gunst der Stunde, um Millionen Briten für sich zu gewinnen, die ein baldiges Ende der Corona-Beschränkungen fordern. Pikanterweise sind unter ihnen auch jene „Progressiven“, die 2016 gegen den von Farage proklamierten Brexit gestimmt hatten. Sie pochen auf ihre Grundrechte und möchten nicht dabei zusehen, wie sich ein Land wirtschaftlich ruiniert, weil seiner Regierung nichts einfällt, um die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen und gleichzeitig den Dienstleistungssektor am Leben zu halten. Farage hat bewiesen, dass er aus dem Stand eine große Zahl von Menschen mobilisieren kann.

Je länger die Einschränkungen dauern, umso größer seine Chancen. Daran wird auch die geplante Kabinettsumbildung zum Jahreswechsel nichts ändern. Der Abgang von Dominic Cummings könnte für Boris Johnson noch lange nachhallen und seinem Finanzminister Rishi Sunak zum jüngsten Premierminister seit 1812 machen. Und Nigel Farage könnte einmal mehr zum Königsmacher avancieren. Ein aufregendes Jahr liegt vor den Briten.


Ramin Peymani

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15 Kommentare

  1. „What a way to run a country! The hatreds, tears and tantrums behind the ousting of Dominic Cummings revealed – and the ‚victory party‘ thrown by Carrie Symonds to celebrate“ schreibt der Daily Mail am Nov 14.
    (https://www.dailymail.co.uk/news/article-8949631/The-hatreds-tears-tantrums-ousting-Dominic-Cummings-revealed.html)
    Die Dame ruft 20x taeglich bei Bojo an, und textet 25x: und er beugt sich den Anweisungen seiner Herrin !
    „Symonds will throw the UK with Borris under the EU Bus“….sagt ein ehemals enger Freund dem linken Guardian in einem INterview.

  2. Die Conservative Party ist schon laengst keine konservative Partei: sie ist eine Tony Blair Version der Labour II.
    This is the problem.
    Und vielen ‚Civil Servants‘ in hohen Positionen sind die wahren Machttrager, und die sind zu 80\% pro EU und hassen den Brexit.
    Und Bojo hat den Verstand verloren, er hat soviele Fehler gemacht im Handling des Kaefer’s, dass er kaum noch etwas erreichen wird koennen. Er braucht leute wie DCumm., ein Mann verhasst der BBC.
    Es scheint, dass Maenner und Frauen wie Churchill und Margret Thatcher nicht mehr existieren, oder sie haben ein Raumschiff bestiegen, um woanders im Universum zu sein……

  3. Johnson hat aktuell tatsächlich nichts Besseres vor, als morgen seinen »Green New Deal« für GB vorzustellen, die der üblichen Weltrettungsblaupause folgt. Genannt seien hier u.a. die erwartbaren »Patentrezepte« wie weitestegehende Verschandelung ganzer Land- und Gewässerstriche mit Windkraftanlagen oder Verkaufsverbot für Neuwagen mit Hubkolbenmotoren.

    Die Anlandung von Migranten, die läuft übrigens auch, so ganz nebenher.

    Mindestens die westliche Hemisphäre steht vor Gleichschaltung, denn jetzt, mit Trumps Abwahl, ist der Weg frei. Die letzten Bastionen in Form von Oststaaten und Schwellenländern werden, sofern sie sich im Einflussbereich der EU und der USA befinden, auch noch mittels Kampagnen, Handels-, Einreise- und Subventionssanktionen und Rechtsstaatsverfahren »mitgenommen«.

    Ein bemerkenswertes Detail an Johnsons Plan dabei ist, dass er den Ausdruck »Green New Deal« tunlichst vermeidet. Denn das würde die Dinge zu offensichtlich machen – dafür steht sein Plan unter dem Motto »Build Back Better«. Da denken sich, denkt sich Boris, die meisten Briten wohl nichts dabei – aufmerksamen Zeitgenossen wird es dennoch bekannt vorkommen.

    Und tatsächlich ist es so, dass »Build Back Better« nicht nur jeweils eine Klimakampagne u.a. des kanadischen Premiers Trudeau und der indischen Regierung ziert, sondern auch des Biden-Harris-Teams.

    Also wieder Blaupause?

    Natürlich. Google-Treffer führen einen u.a. auf die Seite der Vereinten Nationen. Denn »Build Back Better« ist wie »The Great Reset« oder eben »Green New Deal« das Motto für den gar nicht (nie?) in irgend einer Art geheim gehaltenen Plan, wie Globalisten die Welt umzubauen gedenken.

    Rücksicht auf nationale Interessen oder gar Bürgerinteressen? Fehlanzeige!

    Auf Social Media ist sich die Gemeinde sicher, dass das alles auf den Einfluss seiner Lebensgefährtin, die im obigen Artikel richtigerweise als Aktivistin bezeichnet wird, zurückzuführen ist. Tatsächlich ist sie eine ehemalige NGO-Funktionärin mit Verbindungen zu allen einschlägigen »Foundations«.

    Die Erklärung, dass der Mann seiner Flamme gegenüber schwach wurde, wäre aber zu viel der Ehre für Boris Johnson; beide sind in Wahrheit aus dem gleichen Holz geschnitzt.

    Johnson ist und war noch nie der urbritische und konservative Brexiteer, als der er sich verkauft(e). Alleine seine Biografie spricht eine andere Sprache, wurde er doch in New York geboren – und er hat nicht nur Vorfahren aus dem europäischen Festland-Adel, sondern auch einen türkischen Ur-Opa, den Herrn Kemal, der sich den Namen Johnson selbst erdachte und verlieh.

    Als Mayor von London verfolgte Johnson eine klar linksliberale, globalistische Politik. Er radelte also nicht nur zum schönen Schein, es ist seine Haltung.

    Man sollte aufhören, Johnson mit »true conservatives« wie »The Mogg« oder gar einem wie Nigel Farage zu verwechseln. Seine Mitgliedschaft bei den Tories ist wohl den im Vergleich zu Labour besseren Aufstiegschancen geschuldet – Johnson ist so Tory wie Blair Labour, nämlich gar nicht.

  4. Nichts neues unter der Sonne: Antonius a Kleopatra.
    Antonius hatte Alles verloren…

  5. Schade, BoJo war meine letzte Hoffnung.

    Es gibt einen Film hierzu: „London has fallen“

  6. „“Nun hat Johnsons engster Vertrauter hingeschmissen. Der Abgang ist der vorläufige Schlusspunkt eines Machtkampfes, der seit Wochen schwelte und lange kaschiert werden konnte. Gewonnen hat ihn Johnsons Lebensgefährtin Carrie Symonds. Die 32-Jährige Politaktivistin wird von führenden Mitgliedern der Konservativen Partei wegen ihres enormen Einflusses auf den 24 Jahre älteren Johnson mit Argwohn betrachtet.““ 
    Der Argwohn kommt sicherlich nicht von Ungefähr, zeigt sich doch nicht nur in Britannien der destruktive Einfluß von A k t i v i s t i n n e n auf die Gesellschaft, die Wirtschaft und in der Politik der Staaten der sog. westlichen Welt.
    Mag einfältig klingen, ist aber bei genauem Hinsehen schwer widerlegbarer Fakt.

  7. Mensch Johnson, jetzt zerstörst gerade wieder, was sich die Briten mit großer Anstrengung erkauft haben. Ihre Freiheit.

  8. Ich hatte schon damit gerechnet, dass Bojo die Konservativen beim Thema Einwanderung völlig enttäuschen würde. Das ist eingetroffen. Aber das Problem ist jetzt ein noch ganz anderes. Auf den aktuellen Bildern sieht man es. Bojo ist krank, „he seems ailing“, auf Deutsch wäre das „altersschwach“, schlimmer als Biden. Der PM braucht 2 Jahre Auszeit. Kein Wunder, dass er auf seine junge Freundin angewiesen ist. Es ist Zeit, dass er krankheitshalber abtritt.

  9. Johnson soll jetzt bloß keinen Mist bauen und endlich den Brexit durchziehen. Fehlt noch, dass der jetzt Opfer seiner Hormone wird und seine Anweisungen am Küchentisch oder sonstwo bekommt. Ich werd‘ hier noch wahnsinnig.

  10. Johnson wird ja oft mit Trump verglichen….der hat aber immerhin eine Linie und hat sein Programm durchgezogen….Johnson hingegen wabert hin und her und hat nun wirklich keine Linie an der man seine Politik festmachen kann. Ich bin gespannt was nach dem Brexit passiert…..jedenfalls wird UK (außer die Banker) nicht den Wirtschaftsaufschwung haben, den sich alle erhoffen….eher das Gegenteil. Wir werden sehen.

  11. Ach, Europa…was ist nur aus dir geworden…befreie dich.

  12. Cherchez la femme? Mal wieder? Damit muss Boris alleine zurechtkommen. Wie heißt das? Ist sie zu stark, bist Du zu schwach.

  13. Der wirkte zuletzt wie ein Spielball seiner sich im Widerstreit befindlichen Entourage …“
    Diese Sichtweise ist eine, die vorwiegend von ARDZDF et al. kommuniziert wird. Bei BBC findet man zum Abgang des Beraters eine andere Darstellung:

    • Dominic Cummings, hinted he may quit as Boris Johnson’s top aide by the end of the year, telling the BBC’s Laura Kuenssberg that his position “hasn’t changed” since he wrote in January that he wanted to be “largely redundant” within a year.
  14. «Am Freitagabend verließ er mit einer Kiste seiner Habseligkeiten den Regierungssitz.»
    Wie die Mainstrem-Medien aus einem völlig unkommentierten Abschied ein Drama herstellt.
    Und wie wir alle darauf reinfallen. Und plappern alles nach was uns erzählt wird. Es ist eine Art Erziehung.
    Vor Jahren haben wir uns alle gegen Browser-Popups geärgert. Immer wieder gingen Fenster auf. Wir haben uns gewehrt. Wir haben AdBlocker installiert und wurden wieder frei.
    Heute kann man dank neue EU Gurken-Richtlinien keine einzige Webseite aufmachen, ohne dass ein Cookie Popup das Bildschirm infiziert.
    Wir werden erzogen. Mit jedem Mausklick. Schrecklich!

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