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Vox populi – Vox „Rindvieh“?

Über unsere Freiheit

von Gastautor

28.06.2020

| Lesedauer: 10 Minuten
»Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.« John Stuart Mill

Demokratie und Populismus. Zwei Seiten derselben Medaille. Demokratie ist gut, Populismus verächtlich. So bei uns die allgemeine Wahrnehmung und Darstellung. Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt ist jeweils das Volk, »demos« auf Griechisch, »populus« auf Lateinisch. So gesehen bestimmt das Volk den jeweiligen Inhalt, sowohl in der Demokratie als auch im Populismus. Bezogen auf die Demokratie gilt bei uns allgemein und ohne religiöse Schwingungen: »Die Stimme des Volkes gleicht Gottes Stimme.« Die Römer sagten »vox populi, vox dei.« Das Römer-Wort »populus« für »Volk« ist bei uns negativ belegt und »Volkes Stimme« im »Populismus« – unausgesprochen – so dargestelllt: »vox populi, vox Rindvieh.« Man muss sich entscheiden: Gilt Volkes Stimme? Ist in der »Volksherrschaft«, ist in der Demokratie, das Volk der kluge Souverän oder der Idiot vom Dienst? Je nach Windrichtung und -stärke, wie es gerade passt, mal ja, mal nein, das kann nicht sein. Das ist logisch Unsinn, moralisch verwerflich und führt ins politische Chaos.

War 1933 die Machtübergabe an Hitler »populistisch« oder »demokratisch«? Seine Verbrecherpartei war seit 1930 die stärkste in Deutschland und bei den letzten halbfreien Wahlen vom 5. März 1933 stimmten knapp 44 Prozent für die NSDAP. Weitere acht Prozent der Deutschnationalen sicherten der NSDAP-DNVP-Koalition 52 Prozent der Wähler. Eines der damaligen Argumente zu Hitlers Gunsten lautete: Man könne eine, die stärkste, demokratisch gewählte Partei nicht dauerhaft isolieren. Die Folgen sind bekannt. Volkes Rolle wird teilweise schizophren konzipiert: Einerseits werden Plebiszite, Volksbefragungen, sogar bei Konservativen, immer beliebter. Andererseits warnen (die zum Teil selben) Befürworter von Volksbefragungen vor »Populismus«. Je nach Erfolgsaussichten oder Ergebnissen Jubel oder Katzenjammer. Ein ehemaliger SPD-Bundesminister belehrte mich: »Na wissen Sie, wenn Sie das Volk dazu fragen, dann …« Dann, meinte er, geschähe der größte Unsinn. In dieser brutalen, volksverachtenden Offenheit habe ich das weder vorher noch nachher gehört.

[inner_post 4] Weniger brutal, aber inhaltlich identisch ist die Verwendung des Begriffes »Populismus«. Auch das erinnert an Antikes, Altbekanntes, Athenisches: den Ostrazismus. Nicht zuletzt deswegen wird, werden AfD, Trump, Boris Johnson, Salvini, FPÖ sowie die Orbáns dieser Welt als Populisten bezeichnet. Unbestreitbar handelt es sich um einen Kampfbegriff, keinen analytischen, denn analytisch, im sprachinhaltlichen Ursprung, gibt es zwischen Demokraten und Populisten keinen Unterschied. Beider Bezugspunkt ist der demos, gleich populus. Ostrazismus, das Scherbengericht, das die Volksversammlung, verstanden als Vollversammlung des Volkes, ganz demokratisch, in Freiheit, vollzog, wenn unliebsame Bürger aus dem politischen Leben des Staates entfernt und für zehn Jahre verbannt werden sollten. Eine Riesenmehrheit war dafür notwendig. Damit waren im antiken, basisdemokratischen, freien Athen Demagogie und Denunziation Tür und Tor geöffnet. Weil Missbrauch, Manipulation und Beliebigkeit so offensichtlich waren, gab man dieses im Jahre 487 vor Christus eingeführte Verfahren der Mehrheitstyrannei in Freiheit nach 70 Jahren auf.

Daraus folgt: Freiheit ist mehr als Herrschaft der Mehrheit, denn nur als Herrschaft der Mehrheit kann Freiheit zur Tyrannei der Mehrheit umschlagen. Diesen Gedanken hat vor allem Alexis de Tocqueville Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Klassiker »Über die Demokratie in Amerika« beschrieben. Man lese vor allem Kapitel 9 über die »Allmacht der Mehrheit und ihre Wirkungen«, wo er auch die »Tyrannei der Mehrheit« beschreibt. Diesem Problem widmete sich der Brite John Stuart Mill 1859 in seinem zeitlos gültigen, immer noch utopischen Essay »Über die Freiheit«. Beim Wiederlesen dieses Textes hatte ich das Gefühl, John Stuart Mill beschriebe Deutschland heute. Einige Kerngedanken und -sätze seien vorgestellt.

»Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlich der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen. Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßnahmen dagegen sind ebenso geboten wie gegen jeden anderen Missbrauch der Gewalt.« »Nur insoweit sein Verhalten andere in Mitleidenschaft zieht, ist jemand der Gesellschaft verantwortlich.« Und weiter: »Dies also ist das eigentliche Gebiet der menschlichen Freiheit. Es umfasst als erstes das innere Feld des Bewusstseins und fordert hier Gewissensfreiheit im weitesten Sinne, ferner Freiheit des Denkens und Fühlens, unbedingte Unabhängigkeit der Meinung und der Gesinnung bei allen Fragen, seien sie praktischer oder philosophischer, wissenschaftlicher, moralischer oder theologischer Natur.« Mill nennt noch die Freiheit in Wort und Schrift sowie die Gedankenfreiheit. Nur wenn jemand die Gesellschaft unmittelbar bedrohe, so Mill, haben Staat und Gesellschaft das Recht, einzugreifen. Ansonsten gelte die unbedingte Freiheit des Individuums vor und von Staat und Gesellschaft.

Atemberaubend ist das Kapitel »Über die Freiheit des Gedankens und der Diskussion«. Ich zitiere: »Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.« »Denn wenn die Meinung richtig ist, so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum und Wahrheit auszutauschen; ist sie dagegen falsch, dann verlieren sie eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht.«

John Stuart Mill geht hier erheblich weiter als die gern zitierte Rosa Luxemburg. Diese hatte Lenin 1918 (zu Recht) belehrt: »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenken, sich zu äußern.« Ihre rechtsterroristischen Mörder gewährten ihr nicht einmal das. Für »Rosa« war Freiheit Umgangsform der Diskussion, für John Stuart Mill (und ich hoffe für uns alle) ist Freiheit Lebensform und Lebensinhalt. »Bis in den Tod« wollte sich der 1788 gestorbene französische Aufklärer Voltaire für die Meinungsfreiheit einsetzen: »Du bist anderer Meinung als ich, und ich werde dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen.«

So viel, in gebotener Kürze, zur Freiheit des Einen gegenüber Gesellschaft(smehrheit) und Staat. Was aber, wenn der Eine mit der Gesellschaftsmehrheit anders denkt, fühlt und Anderes will als »der« Staat, »die« Politik« und »die« medialen Multiplikatoren? Was, wenn eine dicke Mauer zwischen dem Einen mit dem Volk und der Minderheit aus Politik und Medien steht? Müssen dann der Eine plus Volk gegen diese Mauer rennen?

[inner_post 5] Für jenen Einen wird, egal ob alle oder nur Teile von Politik und Medien sich auf ihn stürzen, das Leben mordsgefährlich. Subjektiv wollen Politik und Medien diese Gefahr natürlich nicht verursachen, doch objektiv sind sie Auslöser dieser tödlichen Gefahr. »Es war einmal« im September 2010. Einen, Thilo Sarrazin, hatte die Einheitsfront von Staat und Medien an den Pranger gestellt. Dem Einen stimmte weit mehr als das halbe Volk zu. Galt vox populi als vox Rindvieh? Unabhängig davon, wie man sich positioniert, pro oder contra, in der Causa Hans-Georg Maaßen wirkte im Jahre 2018 ein ähnlicher politischer Mechanismus.

Zurück zum Problem Politik plus Medien gegen den Einen plus Volk: Verbarrikadieren sich jene hinter einer »Mauer« und bewerfen scheinbar nur den Einen, tatsächlich aber das Volk mit Parolen und Pädagogik? So schaffen sie Duckmäusertum. Oder wollen sie sich ein neues, ihnen genehmes Volk, formen? Ihre Mauer wird dauerhaft so wenig halten wie die Chinesische und Berliner Mauer. Sie wird auch deshalb Risse bekommen, weil (wann?) einige (wer und wie viele?) der sich hinter der Mauer Verbarrikadierenden zum Volk überlaufen, um eine neue Partei (gar »Volkspartei«?) zu gründen.

Kommunismus: von Anfang bis Ende Unfreiheit; unterschiedlich intensiv oder mörderisch. Kommunismus in Freiheit gab es nur in den Kibbutzim Israels, und die haben, weil frei, den Kommunismus längst abgeschafft.

Nationalsozialismus: vor ihm die Freiheit. Der Freiheit seine Macht verdankend, schaffte der unverzüglich einsetzende NS-Terror eben diese Freiheit ab. Folgte das Volk den Freiheitsräubern?

Eine Mehrheit von etwas mehr als 50 Prozent, ja, bis zum Wendepunkt Stalingrad. Über Unfreiheit und Verbrechen von Kommunismus und Nationalsozialismus ist eigentlich längst alles gesagt; auch über die nicht nur theoretisch mögliche »Tyrannei der Mehrheit« in Freiheit. Der auch mich erschreckende, niederschmetternde Befund lautet: Die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit der Mehrheit sind auch und sogar unter den Rahmenbedingungen der Freiheit unseres Grundgesetzes gefährdet. »Du bist die Aufgabe, kein Schüler weit und breit.« So Franz Kafka. Ich frage bang: Welcher Schüler löst die Daueraufgabe unserer bundesdeutschen Freiheit?


Diesen Beitrag von Prof. Dr. Michael Wolffsohn haben wir seinem jüngsten Werk entnommen. Wir danken Autor und Verlag für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Michael Wolffsohn, Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik. Herder, 320 Seiten, 26,- €


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