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Vox populi – Vox „Rindvieh“?

Über unsere Freiheit

von Gastautor

28.06.2020

| Lesedauer: 10 Minuten
»Wenn alle Menschen außer einem derselben Meinung wären und nur dieser einzige eine entgegengesetzte hätte, dann wäre die ganze Menschheit nicht mehr berechtigt, diesen einen mundtot zu machen, als er, die Menschheit zum Schweigen zu bringen, wenn er die Macht hätte.« John Stuart Mill

»Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.« So Bertolt Brecht in »Das Leben des Galilei«, verfasst 1939 im dänischen Exil. Weil unfrei, brauchte die DDR Freiheitshelden. Ironie der Geschichte: 1939 unwissend der DDR-Zukunft zugewandt, hatte Bert Brecht, späterer DDR-Nationalpreisträger, vorhergesehen, was die DDR wurde: ein unglückliches Land, sie hatte Helden nötig. Den meisten Menschen fehlt der Mut zur Freiheit.

»Lieber rot als tot«, hieß der selbsttröstende, selbstbetrügerische Alibireim in Ost und West. Davor war die Mehrheit, ohne Reim, lieber braun als tot, und das war keine deutsche Besonderheit, denn Franzosen fragten 1939: »Mourir pour Danzig? Für Danzig sterben?« Die Antwort war eindeutig: Nein. Einen »komischen Krieg« führte dann das »realistische« Frankreich gegen Deutschland seit September 1939. Am 10. Mai 1940 hörte der »Spaß« auf. »O hätten wir doch früher«, katzenjammerten die kuschenden Realisten und Pazifisten, die gemeint hatten, Freiheit gäbe es zum Nulltarif. Die Mehrheit, nicht nur im besetzten Frankreich, kuschte weiter und kollaborierte mit dem NS-Verbrechersystem der Unfreiheit. »Danach« stilisierte man sich zu einem Volk des »Widerstands«, der »Résistance«, »Resistenza« und so weiter und so weiter.

Die Häftlinge von Berlin-Hohenschönhausen in der DDR, Millionen Gulag-Gefangene und andere Freiheitshelden im kommunistischen Europa hatten wirklich aus der Geschichte der Unfreiheit gelernt. Sie zahlten einen hohen Preis: DDR, 17. Juni 1953; Polen und Ungarn 1956; Tschechoslowakei 1968. Der Westen weinte und nahm es trotzdem leicht.

[inner_post 1] 1968 im Vergleich: Im Osten, in der Tschechoslowakei, »Prager Frühling«, Widerstand und Freiheitskampf. Gulags, Hohenschönhausen, Stasi, Mauer, Stacheldraht, strikter Schießbefehl »auf Menschen und Hasen«. In der Volksrepublik China lässt Mao seit 1966 sein Volk millionenfach abschlachten. Rot und tot. Im Freien Westen: »Widerstand« de luxe. Freiheit und Wohlstand im Aufstand gegen sich selbst. Studentenrevolte gegen die demokratisch legitimierte und kontrollierte Staatsmacht. Die Kinder der städtisch-bürgerlichen Elite inszenieren sich selbst als »Proletariat« oder als Aufstand der verelendeten Drittwelt-Landmassen gegen »die Stadt« »der Reichen« – genau in diesen Städten der Reichen. Im freien, schwarz-rot-goldenen, Deutschland proben sie den risikofreien roten Widerstand, den ihre Eltern, des Risikos wegen, gegen die Braunen nicht gewagt hatten.

Wie ihre Eltern recken und strecken sie einen Arm aus und hoch. Jubelnd halten die Nachgeborenen dabei Mao-Bibeln in der Hand. Seine millionenfachen Morde nehmen sie so selten zur Kenntnis wie die Eltern, die nichts von NS-Massenmorden wissen wollten. Nach der Enttäuschung über den wilden Mao wurden sie behäbiger und entdeckten den vermeintlichen Charme des Recht-und-Ordnung-Kommunismus à la Sowjetunion und DDR. Trotzdem oder gerade deshalb: Staatsterror kann das Leben der Widerständigen vernichten, nicht ihren Geist, den Geist der Freiheit. 1980: Das Wunder von Polen. Solidarność. Schließlich 1989/90: Das Wunder der sanften DDR-deutschen und dann osteuropäischen Revolution.

Die osteuropäischen Freiheitskämpfer, sie gingen voran, die Massen folgten. Die Massen folgten aber erst, weil und nachdem sich Fundamentales verändert hatte: Gorbatschows Glasnost und Perestroika als Folge der kommunistischen Niederlage im Wettbewerb der Weltwirtschaft und diese als Ergebnis der NATO-Nachrüstung. Große Teile der Weltgemeinschaft liebten Deutschland damals so sehr, dass sie gern zwei davon behalten wollten. Die völlig unerwartete Staatskunst zweier Westpolitiker, Helmut Kohl und George W. Bush senior, haben 1989/90 das, ja, Wunder vollbracht, aus dieser Zweiheit die heutige Einheit in Freiheit zu gestalten.

Von Ausnahmen abgesehen triumphierte 1989/90 der Westen zwar als Wirtschaftssystem, nicht jedoch als Idee. Der »Körper« siegte, nicht der Geist, die Seele. Wie viele, in West und Ost, verwechselten die freie Welt mit Freizeitwelt und »Selbstverwirklichung« mit Selbstbestimmung? 1988 blickte der Westen in den Spiegel und gähnte sich selbst gelangweilt an. Dann 1989, der historische Urknall.

Im Rahmen der Unfreiheit ist Recht nicht Gerechtigkeit, weil ohne und gegen die Freiheit. So gesehen waren der rote und braune Staat deutscher Unfreiheit durchaus »Rechtsstaaten«, an »Recht und Gesetz gebunden«, an ihr Recht und ihre Gesetze, obgleich gleichzeitig die Menschen- und Bürgerrechte völkerrechtlich galten. Ihr Papier war geduldig.

[inner_post 2] Manche behaupten, die DDR und sogar das Dritte Reich wären keine »Unrechtsstaaten« gewesen. Sie übersehen: DDR und Drittes Reich waren »Rechtsstaaten« ohne Gerechtigkeit. Ohne Gerechtigkeit in den Fragen des menschlichen Wesens und Seins, wenngleich das tägliche Dasein durchaus rechtlich, ja sogar im Unwesentlichen gerecht regelnd: Ladendiebe und Verkehrssünder wurden »gerecht« bestraft. Rechtmäßig NS- oder DDR-Gesetze anwendend, aber fundamental ungerecht, weil gegen Leben und Freiheit des Menschen gerichtet, entschieden die Richter des »Volksgerichshofes« oder der DDR-Gerichte.

Ist die Goldschicht unserer Freiheit dünner, als uns scheint? Große, grundsätzliche Sorgen plagen mich. Sie sind einerseits hochaktuell, andererseits so alt wie die Geschichte der Freiheit.

Der befreienden ebenso wie der beklemmenden Wirkung der Freiheit begegnen wir schon im ersten Buch der Bibel, Genesis. Eva, mehr als Adam, befreit sich von der göttlichen Bevormundung beziehungsweise Unfreiheit. Die Kinder Israels »emanzipieren« sich von Moses (in seiner Abwesenheit) und tanzen ums Goldene Kalb. Die Folgen im natürlich fiktionalen Mythos sind bekannt.

Von der biblischen Fiktion zu den historischen Fakten: Das alte Athen in der kurzen Epoche der Demokratie: Die vollständige Freiheit des Volkes, die Volksherrschaft, die »Demokratie«, genossen nicht alle Einwohner, sondern nur Vollbürger (die keine »Genossen« waren, sondern »Bürger«). Untrennbar gehörten zur, wohlgemerkt, direkten, umfassenden und sozusagen permanenten Demokratie Athens Demagogie und Denunziation in einem in der Antike vorher und nachher nicht gekannten Ausmaß. In der Stunde totaler Freiheit schlug zugleich die Stunde der totalen Manipulation der Freien, die durch die Demagogie in der Demokratie freiwillig ihre Freiheit aufgaben – und sich weiter frei wähnten. Äußerlich blieben sie frei, innerlich hatten sie sich den Demagogen freiwillig versklavt.

Waren die Demagogen die öffentliche Meinung, die Meinung der meisten, der Mehrheit? Oder »machten«, prägten, manipulierten sie die öffentliche Meinung, indem sie vorgaben, den Willen der Allgemeinheit zu vertreten, was immer der »Wille der Allgemeinheit« gewesen sein könnte?

Begrifflich habe ich Jahrhunderte übersprungen. Vom »Willen der Allgemeinheit«, der »volontée générale«, und dem »Willen aller«, der »volontée de tous«, sprach erst Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert, doch der Problemkern ist identisch. Er ist zeitlos und am Beispiel Athens besonders gut erkennbar.

Ich nehme den öffentlichen Diskurs in unserer deutschen Freiheit so wahr: Erst das Ereignis, die Aktion und gegebenenfalls Provokation der Person. Dann die medialen und politischen Reaktionen. Selten übermitteln die medialen Multiplikatoren Nachrichten pur. Meistens werden Nachricht und Meinung intensiv vermischt, sogar in vermeintlichen »Nachrichtensendungen«, was bei öffentlich-rechtlichen Anbietern noch unseriöser als sonst ist. Die Meinung der Multiplikatoren mehr illustrierend als illuminierend, also erhellend, werden »der einfache Mann oder die einfache Frau auf der Straße« befragt. Zitiert werden dabei meistens die genehmen Antworten und die nicht genehmen von selten wirklich besser wissenden Besserwissern kommentiert. Multiplizierend kommen gleichzeitig und zusätzlich die jeweils zuständigen Verbände und Experten zu Wort. Für Autos ist der ADAC zuständig, für Arbeitnehmer die Gewerkschaften, für Arbeitgeber deren Dachorganisation, für die Moral (Schein oder Sein?) die Kirchen. Moral-Joker ist der Lautsprecher im Zentralrat der Juden in Deutschland.

Als Experte gilt meistens, wer die Grundeinstellung der Multiplikatoren teilt. Eine Variante sind Gesprächsrunden, »Talk Shows«, in denen meistens ein Ketzer oder Bösewicht einer Mehrzahl von »Anständigen« gegenübergestellt wird. Keiner ist unmittelbar physisch gefährdet, jeder frei. Im Vergleich zu den tödlichen Gladiatorenkämpfen im Alten Rom ist das sehr human.

Die Positionen der Provokateure oder Politiker, Publizisten, Jedermänner, Experten und Gladiatoren werden von den jeweiligen Anhängern nachredend und nachlaufend, weniger nachdenkend oft wörtlich übernommen. Die Sympathien wechseln häufig und schnell. All das geschieht unter den äußeren Rahmenbedingungen unserer vollständigen Freiheit.

[inner_post 3] Die »Schweigespirale« erklärt den massenpsychologischen Mechanismus. »Schweigespirale«, das ist der geniale Begriff, den Elisabeth Noelle-Neumann prägte. »Schweigespirale«, das ist die moderne Variante des Mitläufertums in Freiheit. Unfreiheit kann Mitlaufen und Mitmachen mit staatlichen Machtmitteln erzwingen. In der Freiheit folgt das Mitlaufen und Mitmachen den Mechanismen der Schweigespirale. Man kann sie wie folgt umschreiben: »Ich denke, was ich denke, das die meisten denken, weil ich dann so nicht isoliert bin.«

In seiner nur scheinbar absurden und deshalb so wahrhaftigen Erzählung sowie dem gleichnamigen Theaterstück »Die Nashörner« hat der rumänisch-französische Schriftsteller Eugène Ionesco 1957 die Mechanismen der Schweigespirale dargestellt. Zuerst wurde nur ein Mensch freiwillig Nashorn, dann immer mehr, dann war »man« Nashorn. Nur ein Einziger passte sich nicht an. »Ich kapituliere nicht!«, ruft er am Ende. Alle anderen konnten sich dem Isolationsdruck nicht entziehen. Isolationsfurcht und die Angst vor dem Pranger sind die Triebkraft der Nashorn-Verwandlung, des Mitläufertums in der Freiheit, ganz ohne staatliche Unfreiheit. Ein Mitläufertum aus Isolationsangst und der alten, schon vom großen Königsberger Kant benannten Angst, selbständig, frei zu denken, sich »seines eigenen Verstandes zu bedienen«, sich aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« zu befreien. Nicht unser Staat, nicht nur unsere Politiker oder Medien, wir alle, haben nicht diesen Mut. Hoch leben die Ausnahmen. Es gibt sie.

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