Necla Kelek bemerkte dazu trocken: »Da macht sich jemand zum Opfer, der zu den Gewinnern zählt.« Sie kritisierte weiter:
»Islamverbände und Türkenlobby sonnen sich in Sachen Sarrazin in der Opferrolle und überbieten sich in wortradikalen Ausführungen. … Sie halten Assimilation der Türken und Muslime in die deutsche Gesellschaft für ein Verbrechen, unter anderem, weil dies ihr Geschäft mit der Integration verderben könnte.«20
Chaim Noll schrieb zu diesem Teil der Debatte fast schon verzweifelt:
»Was hilft Meinungsfreiheit, wenn sie ganze Bereiche des Denkens meidet? Wenn der Islam zu Deutschland gehören soll, wie der Bundespräsident behauptet, muss auch Islam-Kritik zu Deutschland gehören, denn in westlichen Staaten gilt es als Menschenrecht, jedes uns berührende Phänomen kritisch zu reflektieren.… Islam-Kritik ist notwendig zum Erhalt der geistigen Freiheit in Europa.«21
Genetische Fragen
In meinem Buch hatte ich an verschiedenen Stellen den Stand der Forschung zur Erblichkeit von Unterschieden in der menschlichen Intelligenz sachgerecht zitiert und diese Ergebnisse bei meinen Analysen verwendet. Das löste allergrößte Abscheu aus und wurde prominent als Begründung für das Verfahren zum Ausschluss aus der SPD herangezogen. Frank-Walter Steinmeier sprach von »geradezu abenteuerlichen Interpretationen angeblicher Wissensstände in der Humangenetik«.22 Dieter E. Zimmer schrieb dazu im Rückblick verwundert:
»Dies also schien die Meinung der SPD-Spitze zu sein: Weder Intelligenz noch irgendeine andere Charaktereigenschaft sind genetisch vorgezeichnet. Biologie spielt im Leben des Menschen keine Rolle. Wer anderes glaubt, verstößt gegen die elementaren Wertvorstellungen der Sozialdemokratie, ist ein Biologist, ein Rassist, fast ein Nazi und eigentlich ein Fall für den Verfassungsschutz.«23
[inner_post 4] Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte aus dieser peinlichen Kritik auch drei Jahre später nichts gelernt und zog noch im Juli 2013 öffentlich erneut eine Parallele zwischen Auschwitz und meinen Aussagen zur Erblichkeit von Intelligenz. Er tat diese Äußerung in derselben Veranstaltung, in der er sich eine Tagesschau-Sprecherin mit Kopftuch wünschte.24
Einige journalistische Stimmen offenbarten ein merkwürdiges Verständnis von Forschung, indem sie mir einige der Wissenschaftler, die ich zitiert hatte, etwa Gunnar Heinsohn, Richard Lynn, Volkmar Weiss oder Herrnstein und Murray, gewissermaßen moralisch zur Last legten.25 Dass es in der empirischen Wissenschaft nur zwei Kriterien gibt, nämlich Wahrheit und Erkenntnisfortschritt, scheint für viele Medienvertreter nicht einleuchtend. Sie bevorzugen stattdessen Moral und Opportunität.
Eine missverständliche Interview-Bemerkung von mir zur genetischen Verwandtschaft der Juden rief einen besonderen Sturm hervor. Allerdings hatte es schon Elemente von Komik, mir das Wort vom gemeinsamen Gen, das alle Juden teilen, als »antisemitisch« auszulegen. Denn in meinem Buch schilderte ich ja gerade die überdurchschnittlichen intellektuellen Leistungen von Juden in Europa. Das gefiel dem Vizepräsidenten des Jüdischen Weltkongresses Maram Stern allerdings auch nicht, er kritisierte:
»Wenn auch positiv, wir Juden werden wieder herausgehoben aus der Allgemeinheit, in eine Sonderstellung versetzt und damit letztlich doch wieder stigmatisiert. Es muss sich in allen Köpfen die Einsicht durchsetzen, dass wir Juden einfach Menschen sind, wie andere auch.«26
Der damalige israelische Botschafter in Deutschland, Yoram BenZeev, bemerkte zu diesem Teil der Debatte:
»Darüber wurde in Israel kaum berichtet. Was mich betrifft: Ich bin kein Biologe, aber ich erinnere mich gut an die Rede des israelischen Schriftstellers Amos Oz, der … davon sprach, dass die deutsche Kultur jüdische Gene besitzt und das Judentum deutsche Gene hat. Damals bekam er Applaus.«27
Auch weil die jüdischen Stimmen zu dem Buch in der Summe erstaunlich neutral waren, scheiterten alle Versuche, meine kritischen Äußerungen zum Islam und zur muslimischen Einwanderung in eine antisemitische Ecke zu rücken.28
Bedeutung gruppenbezogener unterschiedlicher Geburtenraten
Ausgehend von einer teilweisen Erblichkeit von Intelligenz hatte ich die Frage aufgeworfen, welche Folgen es für eine Gesellschaft langfristig hat, wenn die Kinderzahl gebildeter Schichten dauerhaft unterdurchschnittlich ist. Schon die Frage wurde weitgehend als unzulässig und unmoralisch verworfen und brachte den Vorwurf von Sozialdarwinismus und Eugenik mit sich. Frank Schirrmacher kritisierte die »Etablierung eines völlig neuen Kulturbegriffs. Es geht um die Verbindung von Erbbiologie und Kultur und damit um ein Wort, das Sarrazin (Darwin zitierend) so unerschrocken benutzt wie einst Gottfried Benn ›Zuchtwahl‹ und ›Auslese‹«.29
[inner_post 5] Er fand es anstößig, dass ich die Frage einer unterschiedlichen Fruchtbarkeit unterschiedlich intelligenter Menschen überhaupt thematisiert hatte, unterließ jedoch den Versuch, mir bei Sachaussagen zu widersprechen. Einer auf der Hand liegenden Frage kann man sich allerdings nicht dadurch entziehen, dass man moralisch schweres Geschütz auffährt. Rüdiger Safranski bemerkte dazu:
»Zwar feiert man den Siegeszug der Biologie in Technik und Wissenschaft, will ihn aber im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein nicht gelten lassen. Das konnte man einst bei der Sloterdijk-Debatte zum Thema der biologischen Optimierung des Menschen (›Menschenpark‹) beobachten und jüngst wieder bei der Sarrazin-Debatte. Mit eugenischen Überlegungen, Behauptungen über Erblichkeit der Intelligenz und unterschiedliche Begabungsverteilungen in den Volksgruppen zieht man immer noch die stärksten Bannsprüche auf sich.«
Safranski verwies auf die Philosophie Schopenhauers: »Sein Menschenbild war nicht, wie man es damals [ich füge hinzu: und heute wieder] bevorzugte, vom Geist her entworfen, sondern vom Leib und den Trieben, der Biologie. Mit Schopenhauer vollzieht sich, provozierend für die damalige Zeit, eine biologische Wende in der Philosophie.«30
Frank Schirrmacher und Arthur Schopenhauer als philosophische Antipoden? Das ist fürwahr eine interessante Perspektive.
Die Paradoxie des Tabus führt oft zu rührender Widersprüchlichkeit. In ein- und demselben Interview sagte die Soziologin und WZB-Präsidentin Jutta Allmendinger zunächst: »Ich halte nichts von dieser Geburtenpolitik, diesem Drohbild, dass die Deutschen aussterben.« Gleichwohl scheint sie auch zu erkennen, dass nicht genügend Intelligenz in Deutschland nachwächst, sonst würde sie nicht wenige Sätze später fordern: »Ansonsten brauchen wir, was den Fachkräftemangel angeht, ein klares Bekenntnis zu einer Zuwanderungspolitik, ohne die kommen wir überhaupt nicht mehr aus.« 31 Aber natürlich sollen jene kinderlosen oder kinderarmen qualifizierten Frauen, für die man nach ihrer Meinung keine Geburtenpolitik braucht, am Arbeitsmarkt eben jene Lücken füllen, die durch den Mangel an nachwachsender Intelligenz überhaupt erst entstanden sind.
Leider tabuisiert diese Art der Diskussion auch die Frage, welche Fehlsteuerungen unseres Sozialstaats zur Schichtabhängigkeit der Geburtenverteilung führen. Clemens Wergin spricht hier von einer »sinnentleerten Verschleierungsdiktion«.32 Generell stellt sich die Frage: Was hindert intelligente, gebildete Menschen daran, Tatsachen und kausale Zusammenhänge zur Kenntnis zu nehmen und geistig adäquat zu verarbeiten, die sich bei logisch einwandfreiem Vorgehen zwingend aufdrängen? Ist es die Furcht, sich mit einer strittigen Sichtweise zu exponieren? Ist es der Wunsch, eigene Illusionen zu schützen? Ist es die Angst, den logischen Konsequenzen ins Auge zu sehen?
FUSSNOTEN – [Die Ziffern sind identisch mit der Zählweise im Buch - Anm. d. Red.] 5 Richard David Precht: Soziale Kriege. Vom Unbehagen der bürgerlichen Mittelschicht, Der Spiegel 39/2010, S. 176 6 Hartmut El Kurdi: Die Rückkehr des Rechenritters Sarrazin, taz vom 24. August 2010 7 Hans-Ulrich Jörges: Wer den Schuss nicht hört, Stern 47/2010, S. 48 8 Stern 37/2010, S. 141 9 Gerhard Schurz: Sarrazin verteidigt jene Werte, aus denen die SPD hervorging, Focus 1/2011, S. 56ff. 10 Jürgen Kaube: Pflichtlektüre für die SPD. Deutschlands bedeutendster Sozialhistoriker verteidigt Thilo Sarrazin, FAZ vom 8. Oktober 2010, S. 31 11 Erich Weede: Demographie, Intelligenz oder Humankapital und Zuwanderung. Schafft Deutschland sich ab? Hat Thilo Sarrazin recht?, in Jürgen Bellers (Hrsg.): Zur Sache Sarrazin, Berlin 2010, S. 65, 71 12 Gustav Seibt: Dem Bewahren, Schönen, Guten, SZ-Magazin vom 27. November 2010, S. 48ff. 13 Matthias Dusini: Neo-Avantgardisten der Höflichkeit?, Der Standard vom 25. November 2010, S. 33 14 Thea Dorn: Tribunal der Gutmeinenden, Die Zeit vom 30. September 2010, S. 5 15 Heribert Seifert: Lärmige Inszenierungen. Thilo Sarrazin und der widersprüchliche Kampf um Kommunikationskontrolle, Neue Zürcher Zeitung vom 7. September 2010 16 Henryk M. Broder: Für den tierischen Ernst, Die Weltwoche 1/2011, S. 15 17 Harry Nutt: Von hosenverkaufenden Jünglingen und Kopftuchmädchen, Magazin der Berliner Zeitung vom 27. November 2010, S. M08 18 Zitiert bei Michael Hanfeld: Eine nachhaltige Debatte?, FAZ vom 18. September 2010, S. 31 19 Hilal Sezgin: Deutschland schafft mich ab, in: Patrick Schwarz (Hrsg.), Die Sarrazin-Debatte, Hamburg 2010, S. 184 20 Necla Kelek: Sarrazins Analyse ist eine Ohrfeige für die Parteien, Focus 36/2010, S. 60f. 21 Chaim Noll: Anullierung der Aufklärung, Die Achse des Guten vom 5. Oktober 2011, siehe: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/ article/annulierung_der_aufklaerung/ 22 Mitteldeutsche Zeitung vom 15. November 2011 23 Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung, Hamburg 2012, S. 8 24 Vgl. Auftakt der Muslimischen Hauptstadtgespräche des ZMD war ein voller Erfolg, siehe: http://islam.de/22501 25 So z.B. Nils Minkmar: Lesen ist nicht genug, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. September 2010 26 Maram Stern: Der benutzte Jude, in Deutschlandstiftung Intergration (Hrsg.): Sarrazin. Eine deutsche Debatte, München 2010, S. 143 27 Ich lerne natürlich Deutsch, Interview mit Yoram Ben-Zeev, Welt am Sonntag vom 19. September 2010, S. 3 28 Peter Wortsmann zog in der Zeit eine Verbindung zu Johannes Reuchlin, der mit dem im Jahre 1511 veröffentlichten Augenspiegel für religiöse Toleranz geworben hatte, und wählte dazu den beziehungsreichen Titel »Verbrennt nicht, was Ihr nicht kennt«. Die Zeit vom 5. Januar 2011, S. 16 29 Frank Schirrmacher: Ein fataler Irrweg, in: Sarrazin. Eine deutsche Debatte, a.a.O., S. 24 30 Rüdiger Safranski: Die Zähmung des Menschen, Der Spiegel 38/2010, S. 171ff. 31 Müssen wir das Kindergeld kürzen?, Interview mit Jutta Allmendinger, Die Welt vom 31. Mai 2011, S. 11 32 Clemens Wergin: Herzliche Grüße von Henrico, Die Welt vom 14. September 2010, S. 7
Leicht gekürzter Auszug aus:
Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland. Neuausgabe mit aktualisiertem Vorwort, LangenMüller, 400 Seiten, 18,00 €.
Empfohlen von Tichys Einblick. Erhältlich im Tichys Einblick Shop >>>
0 Kommentare