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Wo Skepsis endet, beginnt Tyrannei

Staatsfeind Nummer 1: der Skeptiker

27.11.2021

| Lesedauer: 3 Minuten
Die von Skepsis befreite offene Gesellschaft ist nicht mehr offen. Der von Angst Besessene und sich nach Erlösung Sehnende kann Komplexität und Ambivalenz nicht ertragen. Wo die Skepsis endet, beginnt die Tyrannei.

Skepsis ist der Treibstoff jeder Abwägung und Bestandteil vernunftgesteuerter Entscheidungen. Ohne Skepsis verhungert die Demokratie. Das Gebot der Stunde aber lautet: Du sollst nicht zweifeln. Zweifel an den Zweiflern ist der derzeit einzige Zweifel, der von der Mehrheit der Überzeugten akzeptiert wird. Es ist zum Verzweifeln.

I.

Eine der größten Errungenschaften menschlichen Denkens ist die Skepsis. Ein Wort aus dem Griechischen – natürlich. Bei den alten Griechen ist der ein Skeptiker, der eine Sache von allen Seiten betrachtet und prüft. Denn die Skepsis ist die Mutter aller Erkenntnis. Denken heißt in Frage stellen. Erst das Hinterfragen – die Skepsis – beendete die Tyrannei des Glaubens. Es gibt keinen Wissenschaftler, keinen Philosophen, der nicht Skeptiker wäre.

II.

Heute verdrängen Emotionen das rationale Denken. Deshalb ist das einstige Vorbild, der Skeptiker, in Verruf geraten: als Impfskeptiker, als Klimaskeptiker. Der einst positiv besetzte Begriff ist zur Beschuldigung, ja zum Schimpfwort geworden. Skepsis gilt als Vergehen gegen das vermeintlich Wahre und Gute. Es fällt auf, dass Skeptiker und Leugner stets in einem Atemzug genannt werden. Der Skeptiker ist in den Augen der Überzeugten bereits ein Leugner. Das ist zwar falsch, doch dahinter steckt Absicht. Der Leugner leugnet das Virus und die Erwärmung der Atmosphäre. Der Skeptiker leugnet sie nicht. Er stellt die Wirksamkeit und den Nutzen verordneter Maßnahmen in Zweifel, setzt ihn in Relation mit den Schäden, die sie anrichten, also zum Beispiel die psychosozialen und ökonomischen Folgen der Covidpolitik. Wobei auch zwischen Skeptikern und Zweiflern fein unterschieden werden sollte. Der Zweifler bezweifelt grundsätzlich. Der Skeptiker geht davon aus, dass immer auch das Gegenteil wahr sein könnte. Er weiß, dass er nicht weiß. Der Skeptiker mag sich im Zweifel für das Impfen entschieden haben, lehnt es aber ab, seine Entscheidung zum Maß für andere zu machen. Schon gar nicht lässt er sich die Ansicht andrehen, die weisesten Ratschlüsse kämen grundsätzlich von dafür zuständigen Stellen.

III.

Die Überzeugten dagegen wissen immer alles besser, weshalb sie immer kurzatmiger in Sackgassen rennen und für die Folgen die Skeptiker verantwortlich machen. In Wahrheit produziert der Mangel an Skepsis die größten Versäumnisse: So machen wir das, Schluss der Debatte. Die Überzeugten sehen in der Skepsis eine Art Sepsis – eine bedrohliche Blutvergiftung des Kollektivs. Sie selbst aber vergiften die Debatte. Sie halten den eigenen Konformismus für eine Tugend. Sie glauben zu wissen, aber sie wissen nicht, sondern glauben, weshalb sie sich gegenüber den Skeptikern als Moralisten aufspielen. Sie glauben, dass man dem Skeptiker nur seine Zweifel nehmen müsse, um ihn auf den richtigen Weg zu bringen. Weil sie ihn nicht überzeugen können, wollen sie ihn belehren. Und weil auch das nicht hilft, machen sie ihm ein schlechtes Gewissen. Nächster Schritt: Wer nicht hören will, soll fühlen: Daher die sinnlose Schließung von Weihnachtsmärkten oder Skipisten. Schließlich das Androhen des nächsten Lock Down. Es ist die Spirale des Totalitären.

IV.

Es stellt sich die Frage, ob die Gegner des Skeptizismus intellektuell beeinträchtigt sind oder nur denkfaul. Auf jeden Fall wählen sie den bequemeren Weg. Steinmeiers: „Wir leben im besten Deutschland, das es jemals gegeben hat” ist ein von aller Skepsis befreiter Satz. „Wir haben alles richtig gemacht“ (Söder zu den Coronamaßnahmen im Frühjahr 21) ist eine irrsinnige Anmaßung. Gut, es ist nicht jeder zum Denken geboren. Mancher nur zum Führen. Wie soll ein Politiker kraftvoll führen, solange er seine eigenen Politik skeptisch sieht. Dies allerdings ist ein zentrales Problem der Politik. Die meisten Wähler wollen keine skeptischen Politiker. Im Gegenteil, sie wollen von ihnen von ihren eigenen Zweifeln befreit werden. Keine Debatten. Wissen, wo es lang geht. Klare Kante. Als stark gilt der Unbeirrbare, nicht der Skeptiker.

V.

Erst recht, wenn der Angstpegel steigt – ob bei Covid19 oder beim Klimawandel. Nach einer Umfrage der Oxford-University glauben 53 Prozent der jungen Bürger der EU und Großbritanniens, dass autoritäre Staaten mit der Klimakrise besser zurecht kommen. Das ist beängstigend. Doch wer an das Ende der Menschheit glaubt, kann gar nicht anders, als an der Demokratie zu zweifeln – und zu verzweifeln. In einer Vernunft und Freiheit erstickenden Atmosphäre zählt nur noch der Gleichschritt. Die von Skepsis befreite offene Gesellschaft ist aber nicht mehr offen, weder intellektuell noch technologisch. Verbrennerverbot – nichts sonst, Impfpflicht – nichts sonst. Der von Angst Besessene und sich nach Erlösung Sehnende kann Komplexität und Ambivalenz nicht ertragen. Leider wird die Welt immer unübersichtlicher. Gerade deshalb sollten Demokratien nicht von Leuten geführt werden, die Skepsis bekämpfen. Wo die Skepsis endet, beginnt die Tyrannei.

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