Der einzige ist er jedenfalls nicht. Professor Yamashita ist bestens integriert in der wissenschaftlichen Community der Strahlenmedizin. Seine Langzeit-Forschungen in Nagasaki, Hiroshima, Tschernobyl und später in Fukushima sind international anerkannt, sie wurden nie von renommierten Forschern bezweifelt, geschweige denn widerlegt. Was Yamashita sagt, so stellte ich in Gesprächen mit anderen Strahlenmedizinern fest, ist Common Sense in der Fachwelt. Mainstream.
Wie ist es dann möglich, dass sich die Mär von den Krebstoten, den Monsterkindern und den auf ewig verwüsteten Landschaften so hartnäckig in den Köpfen hält? Ein deutscher Strahlenbiologe gab mir die Antwort, am Rande der Talk-Show Kerner Live auf RTL, an der wir beide teilnahmen. Die Sendung wurde in Hamburg im März 2011 aufgezeichnet, wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima. Die Informationslage war dürftig. Ich vertrat die Ansicht, dass es keinen Grund zur Panik gebe, da die Gefahr eines Tsunami in Deutschland doch eher gering sei. Die große Katstrophe in Japan sei das Erdbeben gewesen. Wegen der Kernschmelze dagegen sei bislang kein einziger Mensch gestorben oder auch nur ernsthaft verstrahlt oder verletzt worden. Meine Aussage löste eine allgemeine Betretenheit aus, der Moderator ließ mich danach vorsichtshalber kaum mehr zu Wort kommen. Doch nach der Sendung beglückwünschte mich ein Strahlenbiologe, der an meiner Seite im Panel aufgetreten war, zu meiner »mutigen und wichtigen Stellungnahme«. Die Hysterie, welche die deutschen Medien verbreiteten, meinte er, sei unbegründet und verantwortungslos, ja unerträglich. Das hätte er besser vor laufender Kamera gesagt, tadelte ich ihn, sein Wort als Wissenschaftler hätte ein viel höheres Gewicht gehabt als die Einschätzung des wahrscheinlich einzigen atomfreundlichen Journalisten im deutschen Sprachraum. »Ach wissen Sie«, rechtfertigte sich der Fachmann etwas betreten, »wenn man das so direkt sagt, gilt man sofort als Verharmloser.«
[inner_post 3] Es gibt kaum ein Thema, das derart von Ignoranz, Vorurteilen und falschen Mythen kontaminiert ist, wie die Kernspaltung. Der atomare Bann ist ein Paradebeispiel für den Fluch des Guten. Der Glaube an die gerechte Sache scheint jede Lüge zu rechtfertigen. Doch die Folgen der gutgemeinten falschen Warnungen sind nicht harmlos. Sie können mitunter eine tödliche Wirkung zeitigen.
Professor Yamashita war mir bereits im Frühling 2011 aufgefallen, anlässlich einer Reportage in Fukushima. Zwei Monate zuvor hatte das Tohoku-Erdbeben an der japanischen Ostküste schreckliche Schäden angerichtet und einen gewaltigen Tsunami ausgelöst. Ganze Landstriche und Siedlungen wurden verwüstet, 18.000 Menschen fanden damals in den Wassermassen den Tod. Das Bild der Zerstörung, das ich an der japanischen Ostküste antraf, war bedrückend. Der Tsunami hatte ganze Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht, viele Bewohner hatten keine Chance zu fliehen. Wracks von einst stattlichen Schiffen und zur Unkenntlichkeit zermalmte Fahrzeuge aller Art, auf die man bis tief ins Landeinnere stieß, vermittelten einen Eindruck der unermesslichen Naturgewalt.
Der Tsunami hatte unter anderem auch das Kühlsystem von vier der insgesamt sechs Reaktorblöcke des Kernkraftwerkes Fukushima Daiichi zerstört. In drei Reaktoren kam es darauf zu einer Kernschmelze, bei der Wasserstoff freigesetzt wurde. Um einen Überdruck in den Reaktoren zu verhindern, wurde radioaktiver Dampf abgelassen, es kam zu Wasserstoffexplosionen. Der Wind überzog ein 20 bis 30 Kilometern langes und wenige Kilometer breites Gebiet nordwestlich der Reaktoren in der Folge mit erheblichen Mengen von radioaktivem Cäsium und Iod.
Zusammen mit dem Fotografen Mitsuhiro Shoy reiste ich damals zehn Tage lang durch die Präfektur Fukushima. Da und dort wagten wir auch mal einen Abstecher in die Sperrzone, welche die Regierung im 20-Kilometer-Radius um die havarierten Meiler errichtet hatte. Wir besuchten Notsiedlungen, die für die Evakuierten in aller Eile erstellt worden waren. Was wir hörten und sahen, hatte allerdings wenig gemein mit dem, was ich bislang in den europäischen Medien gelesen hatte. Diese berichteten vor allem über die Reaktorkatastrophe. Doch die Menschen vor Ort hatten ganz andere Sorgen. Es war der Tsunami, der getötet, ganze Landstriche zerstört und ihre fruchtbarsten Reisfelder versalzt hatte. Mit der Strahlung gingen die Überlebenden dagegen ziemlich abgeklärt und vernünftig um. Sie wussten, dass sie nie lebensbedrohlich war.
»Die Strahlengefahr nimmt mit der Distanz zu«, spöttelte mein Freund Mitsuhiro einmal, »je weiter die Menschen davon entfernt sind, desto grösser ihre Angst – am größten ist sie am anderen Ende der Welt, in Deutschland.« Der Fotograf war zuvor mit deutschen Reportern unterwegs gewesen. Sie waren mit Schutzanzügen und Gasmasken angereist. Strahlenopfer waren gemäß Mitsuhiro das einzige Thema, das sie wirklich interessiert habe. Nach ein paar Tagen seien die Deutschen dann ziemlich enttäuscht wieder abgezogen. Für ihren Bericht, den mir Mitsuhiro zeigte, hätten sie nicht nach Japan reisen müssen. Sie hätten ihn auch aus ihrem Hamburger Büro schreiben können. Mit der Realität in Fukushima hatte er in meinen Augen nur am Rande zu tun.
Kernschmelzen hatte es früher schon geben, etwa 1957 im britischen Atomkraftwerk Windscale, 1965 auf dem sowjetischen Eisbrecher Lenin oder 1969 im schweizerischen AKW Lucens, wobei letzteres irreparabel beschädigt wurde (die Anlage wurde abgebaut, die Felskaverne, in der sie sich befand, dient heute dem Kanton Waadt als Staatsarchiv). Oder 1979 im Kernkraftwerk von Harrisburg.
Doch bis dahin war es, zumindest im Westen, immer gelungen, den Austritt von radioaktiven Stoffen zu verhindern. Insofern war Fukushima ein Novum. Man wusste nun endlich, was der »größte anzunehmende Unfall« (GAU) bedeutete, und das gleich in dreifacher Ausführung.
[inner_post 4] Gegen 170.000 Menschen mussten in Fukushima 2011 wegen der atomaren Kontamination vorübergehend ihre Häuser und Höfe verlassen. Professor Shunichi Yamashita präsidierte damals die ärztliche Fachgruppe, welche die Verstrahlung vor Ort überwachte. Er sprach sich öffentlich gegen eine dauerhafte Evakuierung des Sperrgebietes aus. Die von der Regierung festgelegte Strahlenobergrenze von 20 Millisievert pro Jahr, so argumentierte er, sei viel zu tief. Die »Radiophobie«, wie er es nannte, also die irrationale Angst vor der Strahlung, war seiner Meinung nach eine viel größere Bedrohung. Bei Werten von bis zu 100 Millisievert pro Jahr, die in Fukushima nirgends erreicht wurden, seien keine nennenswerten Gesundheitsschäden zu befürchten. Die mit einer Evakuation verbundenen sozialen Belastungen, der Stress und die Entwurzelung, beeinträchtigen die Gesundheit ungleich stärker. Es sei ausreichend, vorübergehend auf den Verzehr lokaler Agrarprodukte zu verzichten. Demonstrativ verlegte der Professor seinen Wohnsitz von seiner Heimatstadt Nagasaki ins Krisengebiet von Fukushima, wo er für die folgenden drei Jahre blieb.
Professor Shunichi Yamashita war ein Glücksfall für die Bevölkerung von Fukushima. Weltweit gibt es kaum einen Forscher, der sich besser in der Materie auskennt. Nach seinen Studien in Nagasaki hatte er mehrere Jahre in den USA geforscht. Ab 1990 leitete er eine internationale Tschernobyl-Kommission unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen, welche die gesundheitlichen Folgen der Reaktorkatastrophe in der Ukraine untersuchte. Über ein Jahrzehnt lang pendelte Yamashita zwischen Kiew und Nagasaki. Zwischendurch arbeitete er drei Jahre lang für die Weltgesundheitsorganisation WHO in Genf, wo er maßgeblich am Tschernobyl-Bericht mitwirkte.
Die hochkarätige internationale Expertengruppe – insgesamt nahmen über hundert Forscher an den Untersuchungen teil – veröffentlichte 2006 einen Bericht zu Tschernobyl. Zwanzig Jahre nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine gelangte das Forscher-Team zu einem ernüchternden Fazit:
- Lediglich 31 bis 56 Todesfälle konnten direkt auf die Strahlung zurückgeführt werden; eine Zunahme von Missbildungen bei Neugeborenen konnte nicht festgestellt werden.
- Eine Erhöhung des Krebsrisikos ließ sich nur theoretisch errechnen, sie bewegte sich selbst in den am stärksten kontaminierten Gebieten im einstelligen Promillebereich. Das ergab zwar eine theoretische Zahl von 4000 Krebstoten in ganz Europa, die sich statistisch allerdings nicht nachweisen lässt.
- Festgestellt wurde dagegen eine signifikante Zunahme von Schilddrüsenkrebs, vor allem bei Kindern, der allerdings selten tödlich verlief und der mit zwei einfachen Mitteln zu verhindern gewesen wäre: mit der Einnahme von Iod-Tabletten in den ersten Tagen nach der Katastrophe und vor allem mit dem Verzicht auf lokale Agrarprodukte während einiger Monate.
- Die Schilddrüsenerkrankungen wären auch durch eine rechtzeitige Evakuation der Anwohner zu verhindern gewesen. Als die Umsiedlungen nach einer Woche begannen, war es zu spät. Da das radioaktive Iod-131 eine Halbwertszeit von lediglich acht Tagen hat, war die gefährlichste Phase zu diesem Zeitpunkt bereits vorbei.
- Die flächendeckenden Evakuierungen, so der deprimierende Befund der Forscher, hatte ungleich mehr gesundheitliche Schäden bewirkt, als von der Strahlung zu erwarten gewesen wäre: Depressionen, Suchtverhalten, psychosomatische Leiden, soziale Isolation, Suizide, völlig unnötige Abtreibungen von vermeintlich beschädigten Föten.
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