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Gender im Disput

Die Angst vor dem Leben

16.07.2022

| Lesedauer: 27 Minuten
„Der Sturm auf die Sprache gilt in der Gendertheorie als eine der zentralen Offensiven auf die Gesellschaft zum Zwecke ihrer radikalen Umgestaltung, die gern Emanzipation genannt wird“, so Klaus-Rüdiger Mai. Nach dem Angriff auf unsere Sprache und Kultur von höchster Ebene Grund genug, einen Text zu bringen, der aus einer Zeit stammt, als noch über Genderfragen gestritten wurde.

Foucaults Blick auf die Gesellschaft ist der des Mediziners auf den Kranken, der zudem mit der Systematik der Krankheiten hadert und für den die Krankheit eine Sprache ist, über die er den Patienten vergisst. Was er sucht, ist das Muster von allem, das Ewig-Gleiche, das Ewig-Wiederkehrende, was ihm zum Ursprung wird: „Der Ursprung ist also das, was wiederkommt, die Wiederholung.“

Im Grunde interessiert sich Foucault nicht für den Menschen: „Die Archäologie versucht nicht die Gedanken, die Vorstellungen, die Bilder, die Themen, die Heimsuchungen zu definieren, die sich in den Diskursen verbergen oder manifesteren: sondern jene Diskurse selbst, jene Diskurse als bestimmten Regeln gehorchende Praktiken. Sein Ziel besteht darin, „Diskurse in ihrer Spezifität zu definieren; zu zeigen, worin das Spiel der Regeln, die sie in Bewegung setzen, irreduzibel auf jedes andere ist“, um die „Typen und Regeln von diskursiven Praktiken“ zu finden. „Die Instanz des schöpferischen Subjektes als raison d´etre eines Werkes und Prinzip seiner Einheit“ ist ihm fremd.

In der „Ordnung der Dinge“ stellt Foucault das Konzept des Menschen in Frage, der für ihn lediglich eine Erfindung ist, zudem ein junge, die noch keine 200 Jahre zählt, und die mit fortschreitendem Wissen auch wieder verschwinden wird. Prädiskursive Rahmenbedingung, die Foucault von Anfang an stark interessiert, ist die Macht, die sich in Machtverhältnissen und in den Strategien der Herrschaftsbildung realisiert. „Die Frage lautet nicht, wie Macht sich manifestiert, sondern wie sie ausgeübt wird …“

Wichtig für Judith Butler und für das Konzept der Subversivität und der Resignifikation wird Foucaults Gedanke, dass Macht nicht eindeutig zu verorten ist, sondern alle Bereiche entweder durchdringt oder die Rahmenbedingungen und Regularien schafft. 
„Allgegenwart der Macht: nicht weil sie das Privileg hat, unter ihrer unerschütterlichen Einheit alles zu versammeln, sondern weil sie sich in jedem Augenblick und an jedem Punkt – oder vielmehr in jeder Beziehung zwischen Punkt und Punkt – erzeugt.“ Macht wird nicht als Sein, sondern als Handlung verstanden, die in einem Feld unterschiedlicher Möglichkeiten agiert, das sich auf stabile Strukturen stützt. „Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand. Und doch oder vielmehr deswegen liegt der Widerstand niemals außerhalb der Macht.“ Für Butler stellt sich daher die Frage, wie Widerstand gegen die heterosexuelle, männliche Macht und schließlich Emanzipation möglich, die selbst ein Akt der Macht ist, Macht aber nun als „Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie.“

Doch auch Foucaults einstiger Schüler und späterer Gegenspieler, Jacques Derrida, wird für Butler und den Genderismus produktiv. Kurz gesagt ist es vor allem die Vorstellung des Dekonstruktivismus und seines wichtigsten Werkzeuges, der Differance. Die Differance führt in die strukturalistischen Vorstellungen von der Struktur oder dem diskursiven Feld die Zeitlichkeit ein, in dem immer wieder neue Näherungen immer wieder neue Befunde ergeben, nichts abgeschlossen ist und alles ein Supplement enthält, etwas, was bei jeder neuen Betrachtung hinzukommt, nicht aber in dem Sinn, dass der Leser oder Interpretator etwas hinzubringt, sondern in dem Sinn, dass der Text selbst unabgeschlossen ist, weil das Gesagte auch eine Spur dessen enthält, was es nicht sagt. Und da der Poststrukturalismus die methodische Binarität ontologisch verhärtet, entsteht ein unabgeschlossenes System von Verweisungen des wahrzunehmenden Ungesagten. Dieses wahrzunehmende Ungesagte – und hier schließt Butler an – ist das Unterdrückte, das es zu befreien gilt und das unter anderem immer wieder durch die Sprache geknechtet wird. Sprache sieht sie vor allem als Mittel der Unterdrückung, der fortwährenden Repräsentation der Herrschaft. Da aber der Widerstand auch innerhalb der Macht sich realisieren muss, wie sie von Foucault lernt, hat auch die Befreiung mithilfe der Sprache und in der Sprache zu erfolgen.

Außerdem will Differance auch auf die Differenz, das Nichtidentische verweisen. Die Dekonstruktion spricht – auch das ist Differance – von den Bedingungen der Möglichkeiten des Realen, nicht aber über das Reale selbst. Dekonstruktion funktioniert zunächst erst einmal als Spiel der Möglichkeiten und das um so mehr, um so stärker es sich für die Referenten nicht zuständig fühlt. Wenn Judith Butler in der Resignifikation, in der Enteignung der Begriffe, dem Umfunktionieren von Sprache ein Kampfmittel erblickt, den aktuellen Sprachgebrauch, den sie für repressiv hält, zu unterwandern, zu minieren, dann kann sie an Derridas Vorstellung von der Differance anschließen, der zwar traditionell von der strukturalistischen Unterscheidung von Signifikant und Signifikat ausgeht, aber dem Signifikanten eine beherrschende Bedeutung zuerkennt, die bis weit in das Signifikat hineinweist. Mehr noch, das Signifikat, das Bezeichnete wird zu einer Funktion des Bezeichnenden.

Einseitig gerät so alles in den Fluss des Spiels, der Auflösung der Setzungen, was ein leichtes ist, wenn vorher die Referenz, die Dimension des Realen gekappt worden ist, weil die Realität für Butler nur ein anderes Wort für Herrschaftsverhältnisse ist. Von diesem Punkt aus kann auch die Geschichte dekonstruiert, d.h. aufgelöst werden, zum spekulativen Spiel der Möglichkeiten gemacht werden. Die Geschichte zerfällt in viele Geschichten, denn es existiert nicht „eine einzige, eine allgemeine Geschichte, sondern … stattdessen Geschichten, die nach ihrem Typ, ihrem Rhythmus, und der Art und Weise, wie sie eingeschrieben werden, verschieden sind, verschobene, differenzierte Geschichten usw.“ Dadurch wird eine verallgemeinerte Interpretationshaltung unmöglich, Erkenntnis und Wissen ausgeschlossen. Damit wird die ontologische Existenz des Textes in Frage gestellt, Erfahrung wird durch Imagination vertauscht.

Der Dekonstruktivismus ermöglicht durch den nicht endenwollenden Jahrmarkt der Lesbarkeiten die methodische Aufwertung des Relativismus. Er führt zu einem Zustand, in dem der Wald vor Bäumen nicht mehr gesehen wird. Geschichte als Wissenschaft wird aufgelöst, indem sie zu einem Spiel virtueller Geschichten, virtueller Diskurse wird, deren Aussagen zudem willkürlich ausgewählt werden. Foucaults Untersuchung „bestimmter Elemente – das Wissen über Lebewesen, über die Gesetze der Sprache und über ökonomische Zusammenhänge – für einen Zeitraum, der sich vom 17. bis ins 19. Jahrhundert erstreckt“ und die er mit dem philosophischen Diskurs dieser Zeit in Verbindung bringen wollte, hält keinerlei geschichtswissenschaftlicher Kritik stand. Über Derridas Vorstellung von der Schrift lässt sich Ähnliches sagen, sie funktioniert nur, indem Schrift zu einem Über-Terminus wird, dessen Grund Hyperkritik ist. Hyperkritik arbeitet Hypermoral vor.

Bedingung für die Lesbarkeit der Schrift ist für Jacques Derrida nicht mehr die Anwesenheit des Lesers, sondern die Iterierbarkeit, die Wiederholbarkeit des jeweils Anderen. „Ein schriftliches Zeichen tritt hervor in Abwesenheit des Empfängers.“ Der Empfänger wird aufgelöst wie auch der Autor. Roland Barthes angeregt von Derrida sollte vom Tod des Autors sprechen, der ganz in den Text aufgeht. Wesentliches Merkmal der Schrift ist, dass sie etwas einschreibt. Diese Einschreibung ist immer wieder zu dekonstruieren. Dekonstruiert wird ein Konstrukt, das bereits von der Wirklichkeit gelöst ist. Das Subjekt existiert nicht mehr, es ist Marionette des Textes oder der Schrift oder des Diskurses.

Geschichte wird vom Menschen gelöst zum Spiel der Aussagen. So wie der Marxismus keine Menschen kennt, sondern nur Klassen, die gegeneinander einen unaufhörlichen Klassenkampf führen, „der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“, wie Marx und Engels im „Kommunistischen Manifest“ schrieben, so kennt auch Derrida kein Subjekt, kein Individuum, nichts, was vom Menschen ausgeht, und auch Foucault nicht, für den Subjekte nur Konstruktionen von Diskursen sind. Die Auflösung des Individuums, die Entsubjektivierung des Subjekts, die Vermassung des Menschen, die Aufhebung des Menschen, die letztlich ihren Grund in der Hegelschen Subjekt-Objekt-Ontologie findet, ist ein Grundzug des Marxismus, aber auch des Poststrukturalismus.

Es stellt keinen Zufall dar, dass gerade die französischen Intellektuellen, die sich in der 68ziger Bewegung und in linken, marxistischen Organisationen wie der KPF engagierten, Männer wie Foucault, Derrida und Althusser den Strukturalismus der Ideologie öffneten, in dem sie aus der Methode eine Weltanschauung machten, die sie dann zur Wissenschaft erhoben, freilich in eine wissenschaftliche Weltanschauung, wie die Kommunisten es formulierten.

Die gesamte Entwicklung des Genderismus und die Hervorbringung und Durchsetzung des Genderns der Sprache als ein Mittel zur „revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft“ wäre unverständlich, wenn man nicht die marxistische Rezeption des Poststrukturalismus durch Louis Althusser in Rechnung stellt, wobei Althusser anderseits den Marxismus auch poststrukturalistisch las. Judith Butler nimmt in ihren Theorien explizit und recht häufig Bezug auf Althusser, besonders auf die Schrift „Ideologie und ideologische Staatsapparate“.

Althusser untersucht die Frage, wie die herrschende Ordnung sich stabilisiert. Dabei unterteilt er zwischen Ideologische Staatsapparate, wozu er Schule, Universität, Kirche, Sprache etc. zählt, und Repressive Staatsapparate, Polizei, Justiz, Armee etc.. Das Individuum wird durch Anrufung zum Subjekt. „Die Kategorie des Subjekts ist konstitutiv für jede Ideologie. Aber gleichzeitig fügen wir sogleich hinzu, dass die Kategorie des Subjektes nur insofern konstitutiv für jede Ideologie ist, als jede Ideologie die (sie definierende) Funktion hat, konkrete Individuen zu Subjekten zu konstituieren.“

Genau an diesem Punkt setzt Judith Butler an. Ausgehend von Austins Sprechakttheorie, die besagt, dass Sprache sich in Sprechakten vollzieht und diese Sprechakte Handlungen darstellen, wird das Subjekt erst durch den Sprechakt, durch die Anrufung erschaffen. Dahinter steht das poststrukturalistische Postulat, dass gerade das Subjekt erst durch Diskurse konstruiert wird, die nun zu dekonstruieren seien. „Nach Austin geht das sprechende Subjekt dem Sprechen voraus, während nach Althusser umgekehrt der Sprechakt dem Subjekt vorausgeht, das er zur sprachlichen Existenz bringen will.“ Die Anrufung wird zur zentralen Kategorie für Butler, mit der sie begründet, weshalb wir durch Sprache zu dem gemacht werden, was wir sind, weshalb das Geschlecht ein gesellschaftliches Konstrukt ist, erzeugt durch die Diskurse der Zwangsheterosexualisierung oder durch die phallogozentrische Herrschaft.

Butler zitiert Althussers Beispiel: „In der berühmten Anrufungsszene, die Althusser anführt, ruft ein Polizist einem Passanten ‚Hallo, Sie da!‘ zu. Der Passant, der sich wiedererkennt und sich umwendet, um auf den Ruf zu antworten – d.h. fast jeder –, existiert im strengen Sinne nicht vor diesem Ruf. Was bedeutet nun diese sehr anschauliche Szene? Indem der Passant sich umwendet, erhält er eine bestimmte Identität, die sozusagen um den Preis der Schuld erkauft ist. Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution; die Anrede ruft das Subjekt ins Leben … Doch während Austin ein sprechendes Subjekt voraussetzt, postuliert Althusser in der oben dargestellten Szene, dass das Subjekt durch eine Stimme hervorgebracht wird.“

Nach Althusser wirkt die Ideologie über den Mechanismus der Anrufung. Die Verwendung des stark religiös konnotierten Begriffs zeigt, wie stark Althussers Denken vom Katholizismus geprägt ist, hat er doch den Glauben an Gott in seiner katholischen Ausprägung durch den Glauben an Marx und den Marxismus ersetzt. Diese Anrufung ist im Grunde ein Akt der Unterwerfung. „Das Individuum wird als (freies) Subjekt angerufen, damit es sich freiwillig den Anordnungen des SUBJEKTS unterwirft, damit es also (freiwillig) seine Unterwerfung akzeptiert und folglich ‚ganz von selber‘ die Gesten und Taten seiner Unterwerfung ‚vollzieht‘. Es gibt Subjekte nur durch und für ihre Unterwerfung. Eben deswegen funktionieren sie ‚ganz von selber‘.“ Für Butler existieren deshalb Sex (Geschlecht) und Gender (Geschlechteridentität) nur durch Anrufung. Menschen werden zwangsheterosexualisiert, weil sie als Heterosexuelle angerufen werden. Diese Anrufung begreift Butler als Unterwerfung. „Diese fortwährende Unterwerfung (assujettissement) ist nichts anderes als der Vollzug der Anrufung, jene wiederholte Handlung des Diskurses, der die Subjekte in der Unterwerfung formt.“

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