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Gender im Disput

Die Angst vor dem Leben

16.07.2022

| Lesedauer: 27 Minuten
„Der Sturm auf die Sprache gilt in der Gendertheorie als eine der zentralen Offensiven auf die Gesellschaft zum Zwecke ihrer radikalen Umgestaltung, die gern Emanzipation genannt wird“, so Klaus-Rüdiger Mai. Nach dem Angriff auf unsere Sprache und Kultur von höchster Ebene Grund genug, einen Text zu bringen, der aus einer Zeit stammt, als noch über Genderfragen gestritten wurde.

Es ist wichtig, die gesellschaftlichen Hintergründe hinter den Forderungen einer geschlechtersensiblen Sprache zu sehen, weil sie Mittel in einem Kampf sind, den Karl Marx einmal als Klassenkampf definiert hat – und vermittelt über Louis Althusser sind einflussreiche Adepten des modernen Feminismus wie Judith Butler überraschend stark vom Marxismus inspiriert.

Der Sturz in die Ideologie

Die Analyse, woher die Vorstellung einer gendersensiblen Sprache kommt und wie sie theoretisch abgesichert wird, wird an dem Denken der wohl wichtigsten Theoretikerinnen des Genderismus vorgenommen. Judith Butlers idée fixe besteht in der simplen Universalisierung von Macht und Herrschaft, bzw. in der Reduktion der vielfältigen Welt auf die banale Binarität von Herrschaft und Unterdrückung. Die Welt besteht für sie ausschließlich auf Machtverhältnissen, die sich in der Sprache, im Diskurs realisieren. Diese Vorstellung geht auf Michel Foucault zurück. Um jedoch den Diskurs zum eigentlichen Akteur, zum handelnden Subjekt zu machen, bleibt ihr nichts weiter übrig, als das Subjekt zu entfernen, an den Rand und womöglich darüber hinaus in den „vordiskursiven Raum“ zu schieben. Diese Operation gelingt Judith Butler, in dem sie den Begriff der Differance von Jacques Derrida übernimmt. Der Genderismus ist eine Frucht des Poststrukturalismus oder genauer eines gegenderten Poststrukturalismus.

Explizit und implizit verweisen Butlers Texte entweder durch ein direktes Bekenntnis oder durch Übernahme von Begriffen, Denkfiguren und Theoremen auf Louis Althusser, Michel Foucault, Jacques Derrida und Pierre Bourdieu, zudem auf Freud und Lacan, der Freud poststrukturalistisch gelesen hat. Über Althussers Rezeption wird Butlers Poststrukturalismus durch die Ideologie des Marxismus, genauer durch eine sehr spezielle Rezeption des Marxschen Denkens dynamisiert. Im Grunde unternimmt sie nichts anderes, als den Poststrukturalismus feministisch durchzubuchstabieren, wobei der Feminismus noch einmal auf die Emanzipation der Homosexuellen eingeschränkt wird, denn soweit ich sehe, ist die heterosexuelle Frau die große Abwesende in Butlers Theorie. Dort, wo sie von Frauen spricht, von der Emanzipation, steht ihr die „Lesbierin“ oder die queere Person vor Augen. Die Frau wird bei ihr zum Opfer der „Zwangsheterosexualisierung“, weil Butler sich Heterosexualität nur als Zwang vorstellen kann. Genderismus scheint also weniger mit der Emanzipation der Frauen, als mit der Emanzipation der homosexuellen Frau und queerer Personen zu tun zu haben.

Um zu verstehen, auf welche Art und Weise man den Kampf gegen die Wirklichkeit führt, indem Wirklichkeit theoretisch außer Kraft gesetzt, wegtheoretisiert wird, ist es erforderlich zu skizzieren, was eigentlich beim Sturz des Strukturalismus in den Poststrukturalismus geschah.

Der Linguist Ferdinand de Saussure legte am Ende des 19. Jahrhunderts die Grundlage für eine moderne Sprachwissenschaft, in dem er zwischen Langue und Parole unterschied. Diese kategoriale Unterscheidung büßte bis auf den heutigen Tag nichts an grundlegender Bedeutung ein. Unter langage verstand de Saussure die biologische Möglichkeit zu sprechen, die Sprache als solche, unter langue das Sprachsystem, die Gesamtheit der Regeln einer Sprache und unter parole den konkreten Sprachgebrauch, das konkrete Sprechen. Veränderungen in der Sprache verlaufen in sehr unterschiedlichen Geschwindigkeiten, während die parole, zu dem das Lexikon (Wortschatz) einer Sprache gehört, schnellen Veränderungen offen steht, äußerst flexibel ist, neue Worte aufnimmt, alte Worte „aussterben“ lässt oder transformiert, ist das Sprachsystem, die Grammatik einer Sprache ein sehr stabiles System, in dem Änderungen nur in sehr großen Zeitabständen vorkommen. Der Versuch, das grammatikalische Geschlecht zu verändern, zu gendern, in den weitgehend unveränderlichen Teil der Sprache einzugreifen, kann nur mit größter Brutalität erfolgen und stellt einen Angriff auf die Sprache selbst dar. Was als Akt der Befreiung ausgegeben wird, findet in praxi als bürokratischer Totalitarismus, als Zwang und Unterdrückung statt.

Universitäten gehen dazu über, Studenten, die in ihren Texten nicht gendern, mit Punktabzug zu bestrafen, und Genderkompetenz wird immer öfter als Kriterium für die Berufung auf eine Professur festgelegt. In literarische Texte, die Zeugnis ihrer Zeit sind und zugleich über ihre Zeit hinausweisen, wird eingegriffen, um Worte zu verändern, die heute als „diskriminierend“ oder „verletzend“ empfunden werden. Damit wird das Werk des Autors zerstört, weil die Historizität des Textes aufgelöst wird. Er verliert seine Verortung, einen Teil seiner Kontexte. Er wird verstümmelt und vergewaltigt.

Das Verfahren ist nur vergleichbar mit der Zensur oder mit der Methode der Buchinquisitoren des Index Librorum Prohibitorum, die Stellen in Büchern, die den guten Katholiken verwirren oder vom rechten Pfad abbringen konnten, weil sie häretisch waren oder zumindest übel klangen, einfach schwärzten. Selbst, wenn man das Gendern von Sprache für sinnvoll hielte, haben diese bürokratischen Akte nichts mit Freiheit zu tun, im Gegenteil, gendersensible Behandlung von Sprache wird diktatorisch mit Zwang durchgesetzt.

Die ideengeschichtliche Pointe lautet, dass gerade der Strukturalismus, der angetreten war, Sprache und Literatur vor der ideologischen Vereinnahmung zu schützen, die ideologische Vereinnahmung von Sprache und Literatur im Poststrukturalismus fordert. Man hatte die Tür zur Freiheit von außen geöffnet, um in die Unfreiheit zu gehen.
Ich erinnere mich, welch Offenbarung der Strukturalismus für mich als Germanistikstudent in der späten DDR bedeutete, wie er mich begeisterte. Die Möglichkeit, objektive Analyseverfahren auf literarische Texte anzuwenden, bedeutete, mit wissenschaftlichen Argumenten literarische Texte davor zu schützen, dass sie in den Dienst der Propaganda gestellt werden würden. Mehr noch, es eröffnete einen Weg, Texte missliebiger Autoren dennoch zu publizieren, indem durch die strukturalistische Textanalyse das ideologisch basierte Verdikt entkräftet werden konnte.

Das betraf nicht nur Texte von Gegenwartsautoren, sondern auch Werke der Literaturgeschichte. Zu zeigen, dass Dichtung nicht nur Inhalt und Botschaft ist, sondern die „Sprachform von Dichtung“ Bedeutung trägt und mithin in der Analyse und Interpretation nicht vernachlässigt werden darf, stellte ein wichtiges Moment im Kampf für die Literatur und gegen eine zensierende Bürokratie dar. Deshalb warf ich mich mit Feuereifer in die Beschäftigung mit dem Strukturalismus, der gerade in den Arbeiten der russischen Formalisten und der Prager Schule beachtliche Ergebnisse zeitigte.

Schriftsteller und Linguisten wie Viktor Schklowskij, Jurij Tynjanow und Roman Jakobsohn, aber auch Jan Mukarovsky leisteten Beachtliches, vor allem, weil sie den Strukturalismus nicht als Theorie, als Philosophie oder als Ideologie entwickelten, sondern als Methode, Texte zu analysieren und die Vorgänge der Rezeption zu verstehen. Claude Levy-Strauss wandte den Strukturalismus in der Ethnologie an und öffnete, weil er Ethnologie als System von Texten verstand, der Ideologie ein ganz klein wenig die Tür, ließ sie jedoch angelehnt und durchschritt sie nie. Doch nicht mehr die russischen Formalisten und Roman Jakobsohn markierten den state oft the art, sondern die Poststrukturalisten: Foucault, Barthes, Bourdieu, Kristeva, Derrida, Althusser, Deleuze, de Man und Greimas. Doch als ein Kommilitone auf einer Konferenz seine Interpretation einer Novelle von Franz Fühmann vorstellte, wurde mir schlagartig bewusst, dass der Poststrukturalismus den Strukturalismus verraten hatte, indem er die Struktur der Ideologie auslieferte, indem er von der Methode zur Gesellschaftstheorie, zur Philosophie überging und die Begriffe der Methode nur Spielbälle immer neuer, immer wirklichkeitsfernerer, immer unverständlicherer Gebilde wurde, die in der Hauptsache die Originalität ihrer Hervorbringer beweisen und ihre Machtstellung in der Gesellschaft der Intellektuellen absichern sollten.

Die Poststrukturalismen wurden zu Okkupationsarmeen ausgerichtet zur Landnahme auf dem intellektuellen Terrain. Mein Kommilitone referierte grundlegende Postulate und Kategorien aus der Strukturalen Semantik von Algirdas Julien Greimas, ohne dass er sich dabei selbst, noch ihm ein anderer auf der atemlosen Suche nach der Tiefenstruktur des Texte zu folgen vermochte und förderte in der Interpretation nur Banalitäten zu Tage, die einem halbwegs geübten Leser schon beim prima-vista-Lesen des Textes aufgegangen wären. Rekurrierte Algirdas Julien Greimas zumindest noch auf die Semiotik, setzte mit Michel Foucault die Ideologisierung des Strukturalismus ein, die wunderbare Möglichkeit, Wirklichkeit mit sanftem Druck aus dem Denken zu drängen.

Michel Foucault, der aus einer Arztfamilie stammte, entkam zwar dem Zwang des Vaters, der ihn mit allen Mitteln zum Studium der Medizin zu zwingen suchte, nicht aber dem medizinischem Blick, mit dem er die Gesellschaft betrachtete. Dabei fesselten die Ränder und dunklen Seiten der Gesellschaft sein Interesse, die Sexualität und der Wahnsinn. Seine Methode, Gesellschaft zu begreifen, geriet zur sozialen Pathologie, die sich am reinsten in der „Geburt der Klinik“, seiner am wenigsten beachteten Schrift, zeigt.

Für Foucault besteht die Welt aus Strukturen, mehr noch, die Strukturen konstituieren die Welt. Strukturen sind für ihn aber immer auch Ausdruck von Machtverhältnissen. Im Zentrum der Überlegung steht die Aussage, die ein seltsames Ereignis ist und die weder Sinn, noch Sprache ausschöpfen und von der immer etwas zurückbleibt. Das, was nicht ausgeschöpft wird, das, was zurückbleibt, sieht Foucault als Material der Geschichte. Auch wenn die Aussage als einzigartig angesehen werden muss, bleibt sie doch wiederholbar und übertragbar in andere Aussagen. Sie steht in einer Matrix von Aussagen, in Beziehung zu anderen Aussagen. Aussagen werden in der Sprache getätigt. Wichtig für das Verständnis von Judith Butler und des Zugriffs auf die Sprache, ist die von Foucault postulierte Erweiterung des Sprachbegriffs, denn zur Sprache wird ihm jede Äußerung, nicht nur als Gesprochenes und Geschriebenes, sondern die ganze wirkliche Welt, Techniken, Institutionen, Gesten, Handlungen, alles, was durch seine Existenz selbst zur Aussage wird.

Wenn man so will, rücken die Spuren der Wirklichkeit an die Stelle der Wirklichkeit. Diese Aussagen bilden den Diskurs einer diskursiven Formation. Aufgabe des Forschers wäre es, die Aussagen einer Formation zu Tage zu fördern, um den Diskurs als System der Aussagen analysieren zu können. Insofern bedeutet die Erforschung des Diskurses nicht die Analyse dessen, was gesagt wird, sondern der zugrundeliegenden Struktur der Aussagen, der „vorbegrifflichen Instanz“. Foucault geht es darum, die diskursive Formation aufzufinden, „das allgemeine Aussagesystem, dem eine Gruppe sprachlicher Performanzen gehorcht“. Doch die Ausgrabung des Beziehungsfeldes der Aussagen, die Archäologie der diskursiven Formation hat ohne Beziehung auf etwas Objektives, auf eine hinter dem Diskurs liegende Objektivität zu erfolgen. Denn die Aussagen gelten ihm nicht als Zeichen für etwas, das zu interpretieren oder zu verstehen ist, sondern als Monumente, als Ecksteine zu einer diskursiven Formation, die nur beschrieben werden kann.

Die fehlende Rückkoppelung zur Realität macht Foucaults Diskursanalyse zu einem Glasperlenspiel. Foucault ist ein zugeknöpfter Nominalist, den die Realität nicht interessiert, sondern der die Referenz des Realen ignoriert und sich wie Alice im Wunderland durch die inneren Bewegungen der Diskurse schlägt. Das Wort wird verdinglicht und tritt an die Stelle des Dinges. „Der Text ist ein historischer Gegenstand wie der Baum.“

Die Geschichte wird ihm zu einem Nebeneinander historischer Diskurse, die keine Diachronizität besitzen, sondern nur eine einzige Gleichzeitigkeit, die entfernt einer Leibnitzschen Monade ähnelt. Foucault betreibt die strukturalistische Aufwertung des Diskurses gegenüber den Referenten monomanisch und überschreitet hierbei die Grenze, die die Methode von der Ideologie trennt. Er spürt ausschließlich der synchronen Dimension des Diskurses nach, sucht nach signifikanten Zusammenhängen zwischen Diskursen, deren einzige äußere Beziehung in ihrer Gleichzeitigkeit besteht. „Dem Denken stellt sich nun eine Aufgabe: den Ursprung der Dinge in Frage zu stellen, aber ihn in Frage zu stellen, um ihn zu begründen, in dem die Weise wiedergefunden wird, auf die sich die Möglichkeit der Zeit gründet, jener Ursprung ohne Ursprung oder Anfang, von wo aus alles seine Entstehung haben kann. Eine solche Aufgabe impliziert, dass alles, was zur Zeit gehört, alles, was sich in ihr gebildet hat, alles, was in ihren beweglichen Elementen ruht in Frage gestellt wird, so dass der Riss ohne Chronologie und Geschichte erscheint, aus dem die Zeit hervortritt.“

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