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"Wir sitzen in der Scheiße"

Ein angebliches Geheimdienst-Papier sieht Russland in verfahrener Lage

07.03.2022

| Lesedauer: 2 Minuten
Im Netz kursiert eine vermeintliche Analyse eines russischen Inlandsgeheimdienstlers, die das Bild einer total verfahrenen Lage für Russland zeichnet. Ob es authentisch ist oder nicht: Die wesentlichen Beobachtungen sind einleuchtend – und beunruhigend

Ob das seit kurzem im Netz kursierende angebliche Analyse-Papier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB über den Ukraine-Krieg authentisch ist, oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Denn nicht der Absender der Analyse  ist entscheidend, sondern die Frage ob sie zutrifft. Alleine die Tatsache, dass es in Putins Herrschaftsbereich noch kritische Bestandsaufnahmen gibt, die dem innersten Machtzirkel zu Gesicht kommen, wäre dann bemerkenswert. Käme das Papier von einem nicht-russischen Geheimdienst, wäre es ein Stück sehr überzeugender psychologischer Kriegführung

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Der Verfasser berichtet, knapp zusammengefasst, dass das russische Vorgehen gegen die Ukraine planlos war und ist – und dass der Krieg kaum mehr zu gewinnen sei. Wörtliches Fazit: „Wir sitzen bis zum Hals in der Scheiße.“

Für die zentralen Erkenntnisse muss man nicht Geheimdienstler sein, die allgemein verfügbaren Informationen genügen dafür: „Der Blitzkrieg ist fehlgeschlagen“, die Ukrainer und die ukrainische Armee sind motiviert, gut bewaffnet und von fähigen Leuten kommandiert; eine Generalmobilmachung, wie sie die Ukraine nun macht, kann Russland sich nicht leisten, weil sie das Land politisch, wirtschaftlich und sozial zerreißen würde und die Logistik schon jetzt überlastet sei.

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Die Analyse vermittelt ein fatales Bild von den Folgen der westlichen Sanktionen. Der Krieg könne nur bis zum Juni geführt werden: „Weil es im Juni keine Wirtschaft mehr in Russland geben wird – es wird nichts mehr übrig sein.“ Etwas übertrieben erscheint die Prophezeiung, im Sommer sei eine globale Hungersnot „unausweichlich“. Und sie widerspricht auch etwas der Voraussage des FSB-Autors, ukrainische Städte könnten Belagerungen jahrelang durchhalten, weil sie durch „humanitäre Konvois“ aus Europa versorgt würden – wie im Balkankrieg seinerzeit.

Erschreckend ist die Feststellung des vermeintlichen FSB-Autors, man habe keinen Überblick über die genaue Zahl der eigenen Verluste. Wenn letzteres stimmt, ist das wohl ein Zeichen dafür, dass im russischen Apparat unbequeme Tatsachen vertuscht werden, so dass am Ende niemand mehr bescheid weiß, und das Ausmaß des Desaster benennen kann, wenn etwas schief geht. Das ist ein typischer Schwachpunkt von Diktaturen, in denen es selbst für Personen innerhalb des Systems riskant ist, den Vorgesetzten die Wahrheit zu sagen.

Die Vermutung jedenfalls, dass Putin und sein Regime keineswegs seelenruhig und siegesgewiss sind, kann man auch durch die am Freitag beschlossenen Gesetze bestätigt sehen. Mit ihnen versucht das Regime, jede öffentliche Kritik, jeden offen gezeigten Dissens zum Schweigen zu bringen. Und die Blockade von Facebook und Twitter soll die Russen von allen Informationen jenseits des Regimes abschneiden. So treibt Putin sein Land zurück in die hermetischen Zeiten der Sowjetunion. Umso wichtiger sind die Proteste gegen den Krieg in russischen Städten und unter russischen Prominenten.

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Dieser Krieg ist nicht nur eine tödliche Gefahr für alle Ukrainer und ein existenzieller Überlebenskampf ihres Staates. Er kann demnächst auch das Regime, das ihn vom Zaun gebrochen hat, zunehmend in Existenznot bringen. In der Kritik der Russen selbst und ihrer Wirkung auf die hoffentlich noch vorhandenen vernünftigen Kräfte innerhalb des Regimes, liegt wohl die einzige Hoffnung.

Der FSB-Autor erinnert an den Krieg des Zaren 1904/05 gegen Japan, der zu Aufständen und einem Revolutionsversuch geführt hatte. Den Verweis auf den nächsten großen Krieg des Zaren, der zur endgültigen Revolution führte, verkneift er sich. In einem Land von der Größe und Bedeutung Russlands, das über Atomwaffen verfügt, ist die Aussicht auf einen grundlegenden politischen Umsturz vielleicht nicht weniger gefährlich als der Krieg selbst. Der FSB-Autor hält auch ausdrücklich einen „lokalen Atomschlag“ für möglich, um Gegner einzuschüchtern.

Nein, besonders erfreulich ist diese erschütternde Analyse auch für die Ukrainer und Gegner Putins nicht.

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