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Tichys Lieblingsbuch der Woche

Die Bundeswehr in der Krise: zwischen Elitetruppe und Reformruine

11.06.2021

| Lesedauer: 3 Minuten
Deutschland tut sich schwer mit seiner Armee, aber auch die Bundeswehr hat es mit Deutschland nicht leicht: vor fast zehn Jahren, am 1. Juli 2011, wurde die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Inzwischen ist die Bundeswehr im Alltag kaum noch sichtbar und die Haltung ihr gegenüber oszilliert zwischen Gleichgültigkeit und Aversion.

Bundeswehr? Ist das die Truppe, die mit Schweineköpfen wirft und von mindestens sieben Anwälten Rechtsgutachten einholen muss, ehe sie ihre letzte Patrone verfeuert? Bundeswehr ist kein Thema mehr, seit die Wehrpflicht vor ziemlich genau zehn Jahren abgeschafft wurde. Jetzt zeigen sich die Folgen dieser Entscheidung: War man früher leidenschaftlich, egal ob dagegen oder dafür, so ist das Thema jetzt echt egal. Früher quälte man sich mit der Frage: Wehr- oder Ersatzdienst? Und wenn Soldat, welche Einheit? Heute ist Verteidigung das, was man nicht braucht oder wofür die USA zuständig sind.

Die Bundeswehr pfeift aus dem letzten Loch. Seit der Wiedervereinigung wurde sie kaputtgespart. „Friedensdividende“ war angesagt. Doch mit Sparvorhaben kann eine ganze Armee aus dem Tritt gebracht werden. Jede Armee besteht aus Einzelverbänden, die eine durchsetzungsfähige Streitmacht bilden können, wenn alle Teile von der Kompanie bis zur Division zusammenwirken. Spätestens aber seit den Strukturreformen aus der Zeit von Thomas de Maizière (CDU) in den Jahren 2011 bis 2013 ist kein größerer Kampfverband mehr einsatzbereit.

[inner_post 1] Auch die Personalprobleme der Bundeswehr sind gewaltig. Vor allem ist der Übergang von der Wehrpflicht- zur Freiwilligenarmee nicht gelungen. Es gibt weit »mehr Häuptlinge als Indianer«, jeder vierte Soldat ist heutzutage Offizier. In der Truppe ist zugleich das Personal knapp, die Verwaltung wurde aufgebläht, jeder Vorgang bedarf mittlerweile der Dokumentation. Die Nachwuchsschwierigkeiten dürften bald überhandnehmen. Nicht nur schlägt der gravierende demographische Wandel durch, auch die zwiespältige Einstellung der Bevölkerung zur Bundeswehr und ihren Einsätzen zeigt Wirkung.

In der vollständig überarbeiteten und erweiterten Neuausgabe dieses erstmals 2019 erschienen »Schwarzbuchs«, wurden nicht nur sämtliche Daten aktualisiert und thematische Ergänzungen vorgenommen – über weite Teile des Werkes „blieb kein Stein auf dem anderen“ – und es geht ans Eingemachte.

Doch ebenso wenig, wie es hilfreich wäre, über die bestehenden Schwierigkeiten hinwegzusehen, wäre es eine Lösung, die Bundeswehr aus Prinzip zu verteufeln. Die Autoren verbinden ihre Kritik mit zahlreichen, sehr konkreten Lösungsvorschlägen. Die Bundeswehr ist eine zutiefst wichtige Einrichtung für unser Land und für Europa. Und jede Reformanstrengung wert.

[inner_post 2] Darüber hinaus verfügt sie auch heute noch über Tausende hoch motivierter Soldaten und ziviler Mitarbeiter, die ihre Treupflicht gewissenhaft erfüllen. Daher soll mit diesem Werk der Blick geschärft und verstärkt darauf gerichtet werden, wo es kneift: sowohl politisch und gesellschaftlich als auch im Innenverhältnis der Streitkräfte.

Zudem erörtern die Autoren brennende Fragen der Zukunft: Welche Rolle nimmt die Bundeswehr ein zwischen den europäischen Armeen und der NATO? Welchen Einfluss auf die sicherheitspolitische Lage haben neue Machtfaktoren wie der Expansionskurs Chinas, das aggressive Auftreten Russlands und die Orientierung der USA Richtung Asien? Und wie ist die Bundeswehr im Hinblick auf Cyber-Bedrohung, den globalisierten Terrorismus des 21. Jahrhunderts oder künftige Pandemiekrisen aufgestellt?

Das macht das Buch so wertvoll: es beschränkt sich nicht darauf, aufzulisten was die Bundeswehr dringend braucht aber nicht hat. Die Autoren verstehen es vor allem, das weiten Teilen unserer Gesellschaft abhanden gekommene Bewusstsein dafür zu schärfen, wofür wir die Bundeswehr brauchen: sie skizzieren die Bedrohungslage in einer Welt, die bedauerlicherweise nach wie vor alles andere ist, als ein Ponyhof. Die Mängel an Gerät, Material und Personal haben ihre Ursache in diesem grundsätzlichen Wahrnehmungsdefizit.

Die Lage ist zu ernst, als dass man die Bundeswehr einer komplett inkompetenten Verteidigungsministerin und einiger Generäle überantworten darf, die ihrer Pension entgegendämmern. Wir sind Bundeswehr. Ob wir wollen oder nicht.

Richard Drexl / Josef Kraus, Nicht einmal bedingt abwehrbereit. Die Bundeswehr in der Krise. Komplett überarbeitete und erweiterte Neuausgabe. Edition Tichys Einblick im FBV, München 2021, 288 Seiten, 22,99 €.


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