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Reden einer Kanzlerin

Angela Merkels Ballastabwürfe

07.10.2021

| Lesedauer: 18 Minuten
Wer regierte Deutschland eigentlich seit 2005? Die Kanzlerin spricht nur sehr selten von sich. Wer ihre Rede deuten kann, erhält trotzdem ein ungefähres Bild von ihren Motiven. Und außerdem einen guten Blick auf ihre bleibenden Errungenschaften.

Dieser Manipulation fügte sie in ihrer Ansprache sechs Jahre später noch eine Extraverdrehung hinzu: Sie unterstellt, der in der Tat nicht ganz präzise formulierende Journalist würde sie wegen ihrer Antwort als ostdeutschen Fremdling vorführen. Tatsächlich zeigte sich in ihrer Phrase vom freundlichen Gesicht eine eigenartige Fremdheit. Aber nicht, weil sie vor 1990 in der DDR lebte (wie der Autor dieses Textes auch). Sondern, weil ihr der Verfassungsstaat auch später immer fremd geblieben war. Manche Westdeutsche, ganz nebenbei, sind dort ebenfalls nie heimisch geworden. Sie besaß eine Leichtigkeit gegenüber dem Grundgesetz, den ihre Vorgänger nicht in diesem Maße aufbrachten, eine Selbstverständlichkeit, ihren politischen Willen über die Rechtsordnung und auch über praktische Fragen zu stellen, kurz, sie nutzte ihr schon erwähntes Talent zur Ballastentsorgung. Überleben konnte sie in ihrem Amt, weil sie dabei den größten Teil der Medien, der Kirchen, der NGOs und alle Parteien links der Union auf ihrer Seite wusste.

So, als imaginäre Chefin eines bundesdeutschen Wohlfahrtsausschusses, entwirft sie in der Oktoberrede 2021 auch ihr Gesellschaftsbild: „Wir erleben aber in dieser Zeit zusehends Angriffe auf so hohe Güter wie die Pressefreiheit. Wir erleben eine Öffentlichkeit, in der demagogisch mit Lügen und Desinformation Ressentiments und Hass geschürt werden, ohne Hemmung und ohne Scham. Da werden nicht nur einzelne Personen oder Gruppen diffamiert, da werden nicht nur Menschen angegriffen wegen ihrer Herkunft, ihres Aussehens oder ihres Glaubens – da wird die Demokratie angegriffen. Nicht weniger als unser gesellschaftlicher Zusammenhalt steht deshalb auf dem Prüfstand. Erschütternd sind auch die vermehrten Anfeindungen von Menschen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen – ob Feuerwehrleute, Rettungssanitäter oder Kommunalpolitiker. Die verbale Verrohung und Radikalisierung, die da zu erleben sind, dürfen nicht nur von denen beantwortet werden, die ihr zum Opfer fallen, sondern müssen von allen zurückgewiesen werden. Denn allzu schnell münden verbale Attacken in Gewalt – so wie es die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der Anschlag auf die Synagoge hier in Halle, das Attentat von Hanau oder die Ermordung eines 20-jährigen Tankstellenmitarbeiters in Idar-Oberstein zeigten. Soweit darf es gar nicht erst kommen.“

Dieses Bild ähnelt in seinen Weglassungen und seinen sorgfältig kuratierten Wirklichkeitsausschnitten erstaunlich ihrer biographischen Nichterzählung. Hass, Hetze, Kassel, Halle, Hanau, Idar-Oberstein, gesellschaftlicher Zusammenhalt – diese Liturgie zieht sich von den Bundespräsidentenreden über die Tagesthemen-Kommentare bis zu unzähligen Zeitungsleitartikeln. Die Attentate vom Breitscheidplatz in Berlin, die Anschläge von Ansbach, zweimal Würzburg und Dresden kommen darin überhaupt nicht vor. Auch nicht die „Scheiß-Juden“-Aufmärsche auf deutschen Straßen vor einigen Monaten. Auch nicht der linksextreme Anschlag auf dem Stuttgarter Wasengelände 2020, nach dem ein Opfer vermutlich lebenslang behindert bleibt. Rechts- und linksextreme Gewalt gab es in der Bundesrepublik schon vor Merkels Amtszeit. Tödliche Anschläge von Muslimen dagegen nicht. Auch keinen öffentlichen Hassaufmarsch vor einer Synagoge, bei dem die Polizei sich auf den Gebäudeschutz beschränkte.

Bei allen Anschlägen – Berlin, Würzburg, Ansbach, Dresden – handelte es sich um Täter, die als angeblich Schutzsuchende nach Deutschland gekommen waren, aber hier nach den Asylregeln nie einen dauerhaften Aufenthalt hätten bekommen dürfen. Bekanntlich ließ sich Merkel ein Jahr Zeit, um sich überhaupt einmal mit den Opfern und Angehörigen des Anschlags vom Breitscheidplatz zu treffen. Der Anschlag auf ein schwules Paar in Dresden durch einen IS-Anhänger jährte sich während Merkels Rede im Oktober 2021 gerade. Sie erwähnte ihn nicht, sie nannte auch vor einem Jahr weder den Namen des Opfers, noch legte sie je an der Stelle des Mordes Blumen nieder. Zum öffentlichen Bild der Merkelschen Ära gehört es, dass der Mord an der Tankstelle in Idar-Oberstein praktisch schon vom Tattag an durch Politiker und Medien als politisches Zeichen gedeutet und in einen sehr großzügigen Zusammenhang mit der Kritik an staatlichen Corona-Maßnahmen gestellt wurde, während der muslimische Attentäter von Würzburg (drei Tote, sieben Verletzte) in den meisten Medienberichten aus dem Nirgendwo kam, und auch sofort wieder mit dem Stempel ‚psychisch gestört‘ ins aufmerksamkeitsökonomische Nichts verschwand.

„Sie kennen mich.“ Nein, tun die meisten bis heute nicht

Wenn es um „Lügen, Desinformation, Ressentiment und Hass“ (Merkel) geht, dann erwähnt sie selbstredend nicht die Organisationen, die Desinformation und Ressentiment mit Hilfe von Steuergeld verbreiten, das ihre Regierung verteilt. Die 1998 von der früheren Stasi-Zuträgerin Anetta Kahane gegründete „Amadeu Antonio Stiftung“ stieg erst in Merkels Amtszeit von einer Regierungsgeldorganisation unter vielen zu einem privilegierten Meinungskonsortium mit Millionenetat und angeschlossenem Forschungsinstitut auf. Diese Stiftung leistete bekanntlich Großes bei der Inflationierung der Begriffe „rechts“ und „rassistisch“. Sie verbreitete die Falschbehauptung, die 2015 angekommenen Migranten seien praktisch alle Syrer gewesen; sie behauptete, die Silvesterübergriffe von Köln seien bis heute, was die Täter angehe, eigentlich ungeklärt.

[inner_post 8] Nur dank einer ebenfalls millionenschweren Finanzierung aus der Regierungskasse konnten die „Neuen Deutschen Medienmacher“ neben Kahanes Organisation zu einer Art staatlich unterhaltenen Ressentimentmanufaktur werden. Ihre Vorsitzende Ferda Ataman identifizierte 2018 den Begriff „Heimat“ als Synonym für Blut und Boden, also einen Rückgriff auf den Nationalsozialismus („Politiker, die derzeit über Heimat reden, suchen in der Regel eine Antwort auf die grassierende ‚Fremdenangst‘. Doch das ist brandgefährlich. Denn in diesem Kontext kann Heimat nur bedeuten, dass es um Blut und Boden geht“). Dieselbe Ataman spekulierte 2020 in einem Tweet öffentlich darüber, dass wenn in den Krankenhäusern Beatmungsgeräte knapp würden, Migranten sicherlich benachteiligt würden. Das schadete ihr und dem staatlichen Mittelfluss an die Organisation nicht im Geringsten, ebenso wenig wie Überlappungen zwischen einzelnen Figuren dieser Truppe und dem Antisemitismus.

Für die Durchsetzung ihrer Politik brauchte Merkel Organisationen, die jeden kritischen Einwand an ihrer Migrationspolitik als rassistisch und rechtsradikal brandmarkten. Wenn es darum ging, Hilfstruppen zu rekrutieren, war sie nie besonders fein und wählerisch.

Die noch halbwegs zivilisierte öffentliche Debatte war nur ein Ballast von vielen, den Merkel abwarf, um oben zu bleiben. In ihrer Amtszeit entstand 2017 das illiberale „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“, das heute weltweit Autokratien als Vorbild dient. Der Anteil der Menschen in Deutschland, die von sich sagen, sie könnten offen ihre Meinung sagen, fiel laut des Allensbacher Instituts für Demoskopie 2021 auf 45 Prozent – den niedrigsten in der Bundesrepublik jemals gemessenen Wert.

Diese Befunde verdienen einen Gegenschnitt zu ihrer Feiertagsrede von 2021: „Deshalb müssen wir uns an einem Tag wie heute auch ehrlich fragen, wie wir miteinander umgehen, wie viel wechselseitigen Respekt wir vermitteln und wie wir die Demokratie vor denen schützen, die sie missachten, die sie verachten.“ Weiter unten heißt es: „Aber wir wissen, dass die Antwort darauf in unseren eigenen Händen liegt, dass wir einander zuhören und miteinander sprechen müssen, dass wir Unterschiede, aber vor allem auch Gemeinsames entdecken werden.“ Ganz zum Schluss folgt die Mahnung: „Seid bereit zur Begegnung, seid neugierig aufeinander, erzählt einander eure Geschichten und haltet Unterschiede aus.“

Das sagt nicht nur eine Politikerin, die ihre eigene Geschichte nie wirklich erzählt, sondern die auch in ihren späteren Jahren geradezu eine Allergie gegen Abweichungen und Widerworte entwickelte. Im Wahlkampf 2017 sorgten ihre Leute dafür, dass Astrid Passin, die Sprecherin der Opfer des Breitscheidplatz-Anschlags, aus der ZDF-Sendung „Zur Sache, Kanzlerin“ wieder ausgeladen wurde – sie hätte eine unangenehme Frage stellen können. Merkels Wachen achteten strikt darauf, nur Virologen und sonstige Corona-Experten zu den Beratungsrunden ins Kanzleramt zu laden, die auch die passenden Stichworte für die jeweilige Regierungspolitik lieferten. Als der Virologe Klaus Stöhr, der das eine oder andere an ihrer Corona-Politik kritisch sieht, doch einmal auf die Expertenliste rutschte, flog er nach einem entsprechenden Fingerzeig wieder herunter. CDU-Granden, die Präsidiumssitzungen unter Kohl und unter Merkel erlebt hatten, berichten, unter Kohl sei in der Runde deutlich mehr diskutiert und manchmal sogar gestritten worden. Und Kohl galt nun wirklich nicht als Schutzpatron des herrschaftsfreien Diskurses.

[inner_post 9] Wie fühlt sich eine Politikerin eigentlich, die von ihrem Vorleben in der DDR nur das Nötigste preisgibt, die mögliche Kritiker schon präventiv stummschaltet und jede ernsthafte Debatte entweder durch Schweigen oder durch verlogene Formeln wie die vom freundlichen Gesicht erstickt, wie fühlt sich diese Expertin für diskursfreie Herrschaft eigentlich, wenn sie in ihre Rede die Mahnung hineinschreiben lässt, anderen ja gut zuzuhören und Unterschiede als etwas Wertvolles zu begreifen? Kichert sie ein bisschen? Fällt ihr die Dissonanz eigentlich noch auf? Oder eher nicht?

Wir wissen es nicht. Wie wir über die Angela Dorothea Merkel née Kasner auch nach 16 Jahren Regierungszeit und 31 politischen Amtsjahren insgesamt eigentlich kaum etwas über ihre Innenwelt wissen.

Zu den Denkwürdigkeiten in diesem Herbst gehört der Anblick einer Partei, die erst langsam versteht, dass sie nur noch aus Trümmern besteht – wie es eben kommt, wenn ein Ballast ganz unten aufschlägt. Trotzdem richten sich dort immer noch erstaunlich viele Blicke und öffentliche Äußerungen auf Merkel. Es ist gut möglich, dass sie wieder einmal ein bisschen Verachtung für die alten Weggefährten verspürt. Ungefähr wie eine Frau für ihren entsorgten Mann, den sie mit Sack und Pack aus der Wohnung geworfen hat, um endlich Ruhe zu haben, und der vierundzwanzig Stunden später wieder mit Blumen vor der Tür steht, weil er es im Hotel nicht aushält.

Ein führender Christdemokrat, der sie seit dreißig Jahren kennt, sagte einmal, sie würde nach ihrer Amtszeit völlig allein sein; anders als Kohl, bei dem in Oggersheim frühere Amtskollegen vorbeikamen, hätte sie mit keinem internationalen Kollegen irgendeine freundschaftlich gefärbte Beziehung aufgebaut. Und mit den Leuten in ihrer eigenen Partei schon gar nicht. Gut möglich, dass sie das gar nicht weiter stört. Die Szene, die sie in ihrer Rede von 2006 geschildert hatte, läuft ganz am Schluss ihrer Kanzlerzeit wahrscheinlich einfach rückwärts: Sie zieht den Stecker, packt irgendetwas in Kartons und verschwindet. Von ihr bleibt ja draußen genug – und zwar als riesiger Negativabdruck. Mit dem öffentlichen Diskussionsklima verhält es sich wie mit einem Aquarium: Es lässt sich ganz leicht in eine Fischbrühe verwandeln, man muss nur einen Tauchsieder hineinhalten. Das schafft jeder Idiot, sofern er über einen Tauchsieder und Strom verfügt. Aus der Fischsuppe macht dann auch ein Genie kein Aquarium mehr.

Die berühmteste Wahlkampfsentenz Merkels (von 2013) lautet: „Sie kennen mich.“
Für die allermeisten Deutschen gilt bis heute: Nein. Das tun sie nicht.

Es wird noch lange dauern, bis sie ein Gefühl dafür entwickeln, wer sie eigentlich 16 Jahre lang regierte. Die Gewichte sind dabei ungleich verteilt. Merkel konnte jederzeit jeden Ballast abwerfen. Sie kam und kommt leicht über alles hinweg. Auch über die Bundesrepublik Deutschland.

Die von ihr Regierten werden die Last der 16 Jahre auch in Zukunft nicht mehr los.


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