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Reden einer Kanzlerin

Angela Merkels Ballastabwürfe

07.10.2021

| Lesedauer: 18 Minuten
Wer regierte Deutschland eigentlich seit 2005? Die Kanzlerin spricht nur sehr selten von sich. Wer ihre Rede deuten kann, erhält trotzdem ein ungefähres Bild von ihren Motiven. Und außerdem einen guten Blick auf ihre bleibenden Errungenschaften.

Ein bisschen anders würde sich die Sache schon darstellen, wenn sich an dieser innersten Überzeugung bei ihr bis heute nicht viel geändert haben sollte, dass die Gesellschaft von einer wohlmeinenden Elite auf einen alternativlos richtigen Weg gebracht und dem Gesellschaftsmitglied der Zügel notfalls straff angezogen werden muss.

Politik als postmodernes Fondsmanagement: akquirieren, wieder abstoßen

In ihrer Feiertagsrede von 2021 behauptet Merkel an einer Stelle, aus ihrem Leben zu erzählen, tut es aber in Wirklichkeit gar nicht, sondern breitet eine ihrer berühmten rhetorischen Abdeckplanen aus. „Ich möchte Ihnen dazu ein Beispiel aus meinem Leben erzählen“, heißt es da: „In einem Ende letzten Jahres von der Konrad-Adenauer-Stiftung herausgegebenen Buch mit vielen Beiträgen und Positionen zur Geschichte der CDU heißt es in einem der dort veröffentlichten Aufsätze über mich: ‚Sie, die als Fünfunddreißigjährige mit dem Ballast ihrer DDR-Biographie in den Wendetagen zur CDU kam, konnte natürlich kein ‚von der Pike auf’ sozialisiertes CDU-Gewächs altbundesrepublikanischer Prägung sein.‘ Die DDR-Biografie, also eine persönliche Lebensgeschichte von in meinem Fall 35 Jahren in einem Staat der Diktatur und Repression – ‚Ballast‘? Dem Duden nach also eine ‚schwere Last, die‘ – in der Regel – ‚als Fracht von geringem Wert zum Gewichtsausgleich mitgeführt wird‘ oder als ‚unnütze Last, überflüssige Bürde‘ abgeworfen werden kann?“

Die von ihr herausgesuchte Formulierung in dem Band der Adenauer-Stiftung stellt zum einen etwas ganz Banales fest, nämlich, dass Merkel 1990 kein altbundesrepublikanisches CDU-Gewächs sein konnte. Wie auch? Da schwingt überhaupt kein Vorwurf mit.

Ihr geht es offenkundig um den Begriff „Ballast“, an dem sie sich abarbeitet. Dass aus Sicht eines westdeutschen CDU-Mitglieds von damals der Berufseinstieg einer Politikerin mit freundlicher Unterstützung von Geheimdienstmitarbeitern und Blockparteirädchen einer Diktatur als biographischer Ballast erscheint, zumindest dann, wenn jemand eine politische Karriere in der Partei Adenauers und Kohls in Angriff nahm – das klingt nun wirklich nicht überraschend, anmaßend oder diskriminierend.

[inner_post 6] Eher wirkt es erstaunlich, dass sie, die damals privilegierte Akademiemitarbeiterin und Westreisende, so tut, als hätte sie einen ganz durchschnittlichen DDR-Lebenslauf absolviert. Sie könnte ja heute öffentlich erzählen, wozu ihre ganz speziellen Erfahrungen vor 1990 ihrer Meinung nach gut und nützlich für später waren, was sie von einem Schnur und einem de Maizière gelernt hatte, und wie es für sie war, mit dem DDR-Papier die Schleuse am Bahnhof Friedrichstraße Richtung Westen passieren zu dürfen. Stattdessen stilisiert sie sich kurzerhand zur DDR-Normalbürgerin, um ihre Biographiebricolage dann auch noch ein bisschen identitätspolitisch aufzuladen: „Ich möchte es vielmehr als Bürgerin aus dem Osten erzählen, als eine von gut 16 Millionen Menschen, die in der DDR ein Leben gelebt haben, die mit dieser Lebensgeschichte in die Deutsche Einheit gegangen waren und solche Bewertungen immer wieder erleben – und zwar als zähle dieses Leben vor der Deutschen Einheit nicht wirklich… Ganz gleich, welche guten und schlechten Erfahrungen man mitbrachte: Ballast.“ – So ganz gleich ist es eben nicht.

Das Wort Ballast bildet den eigentlichen Kern ihrer Rede, nur anders, als sie selbst es vermutlich meint. Wenn es überhaupt eine Spitzenfigur in der europäischen Politik der letzten Jahrzehnte gab, die mühelos jeden Ballast abwerfen konnte und gerade durch Ballastabwurf aufstieg: dann Angela Merkel. Von dem Schnur/de Maizière-Ballast trennte sie sich sofort, als beide Politiker stürzten. Ihre Anfänge in der Politik erwähnte sie überhaupt nur verschleiert oder in Gestalt eines sorgfältig redigierten Skripts, beispielsweise in ihrer Einheitsfeierrede von 2006: „Die Mauer ist gefallen“, heißt es dort, „ich habe Lust bekommen, Politik zu machen. Raus aus dem alten Beruf an der Akademie der Wissenschaften, rein ins Ungewisse, ins völlig Neue … Und wie ich losmarschiert bin, wie viele andere auch, hinaus ins Offene, ins Neue: Zunächst einmal nur, um den Leuten beim ‚Demokratischen Aufbruch‘ zu helfen, um Computer aus Kartons auszupacken und anzuschließen – wir konnten anpacken, wir konnten zupacken –; schließlich, um die Verhandlungen zur Deutschen Einheit mitzuerleben.“

Plötzlich ist ihre Lust auf Politik da, dann kommen auch gleich die Pakete mit den Computern, auspacken, anschließen, niemand erscheint sonst in der Szene, und schon geht’s in die Einheitsverhandlungen. Inhalte im Zusammenhang mit Politik kommen in dieser Erzählung nur als Hardware für Parteibüros vor, die aus Pappkisten geholt werden müssen.

Später in ihrer CDU-Laufbahn – wir überspringen ein paar Stationen – war sie es, die als Generalsekretärin 1999 Helmut Kohl als Ballast abwarf. Mit der gleichen Kaltblütigkeit warf sie noch während des Wahlkampfs 2005 das liberale Steuerkonzept des von ihr engagierten Verfassungsjuristen Paul Kirchhof über Bord, das sie als Last empfand, sobald sie dafür ein wenig Gegenwind bekam. Im Lauf ihrer Kanzlerschaft – wir springen wieder ein bisschen – summierten sich viele kleine Lastabwürfe zu einem großen: Sie befreite sich irgendwann von einem Ballast namens CDU, jedenfalls von der Partei des alten Typs. Spätestens 2015 übernahm sie stattdessen den Vorsitz in einer immerwährenden Konferenz der ARD-Kommentatoren, Chefredakteure und NGO-Anführer, mit denen sie die Richtlinien der bundesdeutschen und gelegentlich europäischen Politik nachhaltiger bestimmte, als sie es mit der zähen und etwas begriffsstutzigen Christdemokratie je gekonnt hätte.

Es spricht viel dafür, dass diese Leichtigkeit, mit der sie sich von früheren Gönnern und von alten Ansichten über Atomkraft, Migration, europäische Geldverteilung und vielem anderen trennte, in ihrer Natur liegt. Bindungen scheinen ihr nicht viel zu bedeuten. Wenn Adenauer und Kohl politisch wie mittelständische Firmenpatriarchen wirtschafteten, die ihren Laden autoritär beherrschten, ihn aber auch nie nur als Instrument verstanden, ähnelt Merkel eher einem postmodernen Fondsmanager, der prinzipiell alles akquiriert, was ihm lohnend erscheint, aber auch ohne Zögern alles abstößt und notfalls verramscht, was nicht mehr in sein Portfolio passt.

In ihrer Rede vom Oktober 2021, der mutmaßlich letzten größeren wie gesagt, kommt sie auch kurz auf ihre Migrationsentscheidung von 2015 zu sprechen. „Auch dieses Beispiel erzähle ich nur“, erzählt die Kanzlerin, „weil ich es bezeichnend und damit am Tag der Deutschen Einheit bedenkenswert finde. In einem Ende letzten Jahres in der ‚Welt am Sonntag‘ erschienenen Artikel schrieb ein … Journalist und Autor – Bezug nehmend auf eine Antwort von mir in einer Pressekonferenz am 15. September 2015, unter anderem: ‚Und sie tat etwas, was keiner ihrer Amtsvorgänger je getan hatte: Sie distanzierte sich einen Atemzug lang von der Republik, deren zweite Dienerin sie doch war. Sie sagte: Wenn man sich dafür entschuldigen müsse, in der Flüchtlingskrise ein freundliches Gesicht gezeigt zu haben, ‚dann ist das nicht mein Land’. Da blitzte einen Moment lang durch, dass sie keine geborene, sondern eine angelernte Bundesdeutsche und Europäerin ist.‘

Keine geborene, sondern angelernte Bundesdeutsche? Keine geborene, sondern angelernte Europäerin? Gibt es zwei Sorten von Bundesdeutschen und Europäern – das Original und die Angelernten, die ihre Zugehörigkeit jeden Tag aufs Neue beweisen müssen und mit einem Satz wie dem in der Pressekonferenz durch die Prüfung fallen können? Mit einem Satz, mit dem ich in einer Antwort auf eine Reporterfrage unter anderem auf die im September 2015 um die Welt gegangenen Bilder von Bürgerinnen und Bürgern erinnere, die in München und anderen Orten Flüchtlinge mit offenem Herzen und, ja, mit einem freundlichen Gesicht am Bahnhof empfangen hatten? Distanziere ich mich in meiner Antwort tatsächlich von meinem Land? Anders gefragt – denn darum geht es mir heute hier im Kern –: Wer entscheidet, wer die Werte und Interessen unseres Landes versteht und wer das nicht tut beziehungsweise eben nur, um das Wort noch einmal aufzugreifen, in ‚angelernter‘ Weise? Welches Bild von Wiedervereinigung wird darin sichtbar? Hier die einen, die seit jeher Bundesdeutsche sind, dort die anderen, die hinzugekommen, die sich durch Übung etwas aneignen müssen – von geborenen und angelernten Europäern gar nicht zu reden?“

[inner_post 7] Hier geht sie ganz in ihrer idealen Rolle als Vorsitzende der Bundesrichtlinienkonferenz auf. Schon ihr Satz von 2015 vom freundlichen Gesicht stellte ja eine manipulative Meisterleistung dar. Denn weit und breit niemand – sie meinte ja vor allem das aufkommende kritische Grummeln in ihrer Partei und der CDU – hatte damals von ihr verlangt, sie solle sich für irgendetwas entschuldigen. Schon gar nicht dafür, dass Leute auf dem Münchner Hauptbahnhof die Migranten, damals gut 10.000 pro Tag, mit freudigen Gesichtern begrüßten. Was etliche in ihrer Partei und auch außerhalb von ihr zaghaft verlangten, war eine Erklärung, wie das Hereinwinken zehntausender Migranten aus arabischen und afrikanischen Ländern ohne jede Prüfung sich eigentlich mit dem Grundgesetz und anderen Gesetzen vertragen sollte. In dem einschlägigen Verfassungsartikel stand schließlich immer noch – sogar bis jetzt –, dass Personen, die über sichere Drittländer einreisen, keinen Anspruch auf Asyl haben. Das Aufenthaltsrecht verbot es sogar rundheraus, Leute einfach prüfungslos und ohne Papiere ins Land zu lassen.

Es gab auch ganz praktische Fragen: Wo kommen die Menschen unter in einem Staat, in dem schon damals Wohnraum in Ballungszentren knapp war? Handelt es sich wirklich überwiegend um gut ausgebildete Fachkräfte? Was passiert in einer Gesellschaft, die innerhalb kurzer Zeit sehr viele junge muslimische Männer aus Konfliktgebieten aufnimmt? Statt eine dieser Fragen auch nur andeutungsweise zu beantworten, schmolz Merkel sie einfach zu einer einzigen banalmoralischen Alternative ein: Wer es begrüßte, dass wir unsere Grenzen nicht schützen können, der zeigte eben ein freundliches Gesicht. Wer die oben angeführten Einwände vorbrachte, ein unfreundliches.

Zweitens bedeutete ihr Satz von damals eine nur halb getarnte Erpressung in Richtung der unzufriedenen Parteifreunde: Wenn ihr nicht mitmacht, könnt ihr euch eine andere Kanzlerin suchen. Sie wusste schon, dass dort Loyalität als höchster Wert galt, aber eben umgekehrt nie gefragt wurde, ob die Person an der Spitze auch loyal zur Partei und zur Verfassung stand.

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