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Internationale Reaktionen

Die dänische Migrationswende bewegt Europa

08.06.2021

| Lesedauer: 3 Minuten
Dänemark hat eine 180-Grad-Wende in der Asyl- und Migrationspolitik hingelegt. Die Entscheidung, einigen Syrern aus dem Gouvernement Damaskus das Aufenthaltsrecht zu entziehen, bildete dabei nur den Auftakt für eine grundlegende Reform des Asylsystems. Die Regierung hat ihr Vorgehen klug geplant.

Das Nachdenken der Dänen über ein neues Asylrecht weist über ihr Land hinaus. Eine ähnliche Reform, wie sie sie nun angeschoben hat, empfiehlt die Regierung Frederiksen auch den europäischen Nachbarn. Das machte Ausländerminister Mattias Tesfaye deutlich, als er sagte: »Wir möchten, dass in Dänemark und in der EU keine massiven Ressourcen mehr für die Bearbeitung der Anträge von hunderttausenden Asylbewerbern aufgewendet werden, obwohl die Hälfte davon keine Flüchtlinge sind.« Diese Worte Tesfayes – vor allem »und in der EU« – waren das i-Tüpfelchen auf der Strategie der Regierung.

[inner_post 1] In Deutschland gab es im Mai mehr als doppelt so viele Erstanträge auf Asylgewährung wie im Vorjahr. Und zu 8278 neuen Anträgen kamen noch einmal 950 Folgeanträge, wie die Welt berichtet. Ist das schon der Effekt der dänischen Entscheidung? Vermutlich nicht.

Unions-Innensprecher Mathias Middelberg glaubt an weiter steigende Zahlen, da die Zuwanderung über Spanien und Italien im Wachsen begriffen sei. Er stellt aber auch fest: »Dabei geht es vielfach um Wirtschaftsmigration, nicht mehr um Flucht«. Die Statistik in den beiden Ländern wird von Tunesiern, Algeriern und Marokkanern angeführt – also nicht gerade Länder, in denen Krieg oder Verfolgung herrschen. Zudem sind es die einzigen direkten Nachbarn der EU in dieser Region.

Die Dänen profitieren von umfangreichen Ausnahmen

Doch fragt man die Union nach Konsequenzen, lauscht man dem Nichts. Die »jüngst in Dänemark beschlossene Asylregelung« würde in Deutschland laut Middelberg am EU-Recht scheitern. Tatsächlich profitiert das skandinavische Land an dieser Stelle von umfangreichen Ausnahmeregelungen. In der dänischen Verfassung ist jede Aufgabe von Souveränität mit einem Volksentscheid verbunden. Gemäß dem Lissabonner Vertrag von 2007 ist Dänemark außerdem von der EU-Asylrichtlinie vollständig ausgenommen.

[inner_post 2] Dänemark muss sich also – neben vielem anderen – nicht zwingend um die korrekte Feststellung »unbegleiteter Minderjährige« kümmern. Es muss sich vor allem nicht an den Artikel 9 halten, der Asylbewerbern für die Dauer ihres Verfahrens ein Aufenthaltsrecht im Mitgliedstaat garantiert. Irgendeine Vorahnung muss die dänische Regierung damals gehabt haben, die sie dazu bewog, dieser Richtlinie nicht beizutreten.

Allerdings lassen sich auch EU-Richtlinien ändern. Eine Übernahme des dänischen Systems schließt Middelberg also recht vorschnell aus. Derweil hat der österreichische Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) Interesse an der dänischen Politik signalisiert und will bald nach Dänemark reisen, um sich über die Pläne zu informieren. Ein »spannender Ansatz« sei das, der aufzeigen könnte, »wie Migrationspolitik nachhaltig bewältigt werden kann«.

Der von Dänemark beabsichtigte Dominoeffekt

Von Kommentatoren wird nun die Frage gestellt, ob das dänische Vorhaben überhaupt umsetzbar sein wird. Denn immerhin könnte das Gesetz noch von den beiden »europäischen« Gerichtshöfen in Luxemburg (EuGH) und Straßburg (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) überprüft werden. Die dänische Regierung sieht keinen Konflikt mit ihren internationalen Verpflichtungen wie der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention oder den genannten Verträgen mit den anderen EU-Partnern.

[inner_post 3] Im Mai hat Dänemark bereits ein »memorandum of understanding« zu Asyl- und Migrationsfragen mit Ruanda unterzeichnet. Darin heißt es bereits: »Die Vision der dänischen Regierung ist, dass Asylverfahren außerhalb der EU stattfinden sollten, um die negative Anreizstruktur des heutigen Asylsystems zu brechen.« Ausländerminister Tesfaye war dazu eigens nach Ruanda gereist. Der unterschriebene Vorvertrag wird als Teilerfolg gesehen. Daneben soll es Verhandlungen mit Ägypten, Tunesien und Äthiopien, vielleicht auch Eritrea geben. Tesfaye hat bekanntlich selbst einen äthiopischen Vater. Vielleicht läutet der wendige Sozialdemokrat, der einst ein Linker in seiner Partei war, so am Ende die politische Rückkehr Europas auf den großen Nachbarkontinent ein, von der alle Beteiligten profitieren können.

Allerdings sind auch einige Teile des Vorhabens unklar, etwa ob Dänemark die Verfahren im EU-Ausland selbst durchführen wird oder das den Vertragsländern überlasst, die die Asylzentren beherbergen sollen. Möglicherweise, so schließt die NZZ, gehe es der dänischen Regierung nur darum, »dem Streben nach einer völligen Unterbindung von Asylanträgen ein Mäntelchen umzuhängen«. Es gehe Kopenhagen vor allem um »Symbolpolitik und Abschreckung«. Doch beide wirken. Ein Kommentator vom schwedischen Aftonbladet formulierte etwas unheilsschwanger: »Ich fürchte, das könnte die Zukunft sein.« Auch das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) befürchtet einen »Dominoeffekt«. Weitere Länder könnten die Annahme von Asylanträgen an Bedingungen knüpfen und den Schutz so einschränken.

Der parlamentarische Sprecher für Ausländer- und Integrationsfragen in der Regierungspartei, Rasmus Stoklund, hat dazu allerdings schon aus Anlass des Damaskus-Beschlusses (ein wirkliches Damaskus-Erlebnis der Sozialdemokraten?) einiges gesagt. Einem ökosozialistischen Politiker widersprach er auf Twitter entschieden, als der meinte, die Regierung würde schutzbedürftige Syrer zur Rückkehr auffordern. Stoklunds sieht zwischen »Verfolgung« und schwierigen Lebensumständen in einem Land einen gewaltigen Unterschied. Wichtig ist Stoklund aber vor allem die Unabhängigkeit der Verfahren von der Politik, an der man wohl in vielen Ländern zweifeln kann. Die Entscheidung über Schutz oder nicht obliegt in Dänemark einem Richter oder Justizbeamten: »Diese Einschätzung darf nie von politischen Wünschen abhängen.« Im übrigen sprächen auch hohe Rückkehrerzahlen für eine relative Sicherheit Syriens.

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Festzuhalten ist die Umstrukturierung des dänischen Parteiensystems, in dem sich die regierenden Sozialdemokraten dem liberalen und konservativen Lager zugewandt haben. Von ihrer gewöhnlichen parlamentarischen Basis aus Parteien, die im großen und ganzen links von ihr stehen und teils sozialistische, teils ökologistische Ansätze pflegen, hat sich die Regierung – zumindest in Migrationsfragen – abgewandt.

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