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Geschichte kennt die EU keine

Nordmazedonien: Proteste gegen „französischen Vorschlag“ weiten sich aus

10.07.2022

| Lesedauer: 3 Minuten
Das kleine Balkanland wehrt sich gegen einen als „Ultimatum“ wahrgenommenen Vorschlag, der das junge Land unter Bedingungen in die EU locken soll. Die Beziehungen zu den Nachbarn bedürfen der Überarbeitung. Daneben destabilisieren steigende Preise den Westbalkan zusätzlich.

In Sri Lanka hat das Volk gerade einen durch Familienbande herrschenden Präsidenten abgesetzt. In den Niederlanden wenden sich Bauern und andere Bürger mit Beharrlichkeit gegen staatlichen Agrarabbau und die Zerstörung ihrer Existenzen. Daneben hat auch der Balkan im Zeichen gestiegener Preise Feuer gefangen. Proteste gab es schon früher in Bulgarien. Nun scheint der Westbalkan dran zu sein.

In der nordmazedonischen Hauptstadt Skopje bricht sich der Volkszorn Bahn. „Ultimatum, nein danke!“, heißt der zentrale Slogan, unter dem zehntausende Demonstranten nun schon seit einer Woche auf die Straße gehen. Bisher wurden knapp 50 Polizisten bei den Unruhen verletzt.

Ausgelöst hatte den Protest der sogenannte „französische Vorschlag“ zu den EU-Beitrittsverhandlungen, den Ratspräsident Emmanuel Macron dem Land im Juni unterbreitet hatte. Darin geht es um mehrere Forderungen Bulgariens, die an sich eher historischer Natur sind. Ähnlich wie zuvor Griechenland hat auch Bulgarien Einwände gegen die nationale Erzählung des jungen Landes, das sich 1990 aus der Bundesrepublik Jugoslawiens löste und damit zum ersten Mal in der Geschichte Eigenständigkeit erlangte.

Scholz: Rest an Aufgaben steht dem Land bevor

Zunächst hatte die rechtskonservative VMRO-DPMNE (Innere mazedonische revolutionäre Organisation – Demokratische Partei für die mazedonische nationale Einheit) zu dem Protest aufgerufen. Oppositionsführer Hristijan Mickoski sagte: „Wir brauchen Europa nicht, wenn wir assimiliert werden sollen.“ Mickoski sieht den „Vorschlag“ als Infragestellung der nordmazedonischen Geschichte, Identität und des kulturellen Erbes des Landes. Bald schloss sich auch die Linkspartei Levica dem Protest an, die Patriotismus und linke Ideale als komplementär bezeichnete. Das mag in diesem Fall so sein.

Denn im Hintergrund dürfte – ähnlich wie in anderen Ländern weltweit – die angespannte Wirtschaftslage und die Teuerung bei Lebensmitteln und Benzin stehen. Diese Probleme betreffen heute alle in Europa, ja in der ganzen Welt. Doch in den ungefestigten Staaten des Westbalkans, der zwischen EU-Ambitionen, Nato und Russland schwankt, finden sie derzeit ein besonders fruchtbares Feld – etwa in Bosnien-Herzegowina mit einer Preissteigerung von mehr als 20 Prozent jährlich bei Industrieprodukten.

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Auch in Albanien gingen am Donnerstag Tausende auf die Straßen, um gegen die Teuerung bei Lebensmitteln und die mutmaßliche Korruption der Regierenden zu protestieren. Der Slogan hier:

„Albanien ist in Gefahr“.

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Die heftigen fortgesetzten Proteste von Skopje könnten bald ihre Fortsetzung in anderen Ländern der Region finden. Beobachter verweisen auf die unklaren Verhältnisse im multireligiösen Staat Bosnien-Herzegowina oder auch in Montenegro.

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Schon im Juni stürzte die bulgarische Regierung über wirtschaftliche Probleme und über die Nordmazedonienfrage. Petkovs Regierung stürzte durch ein Misstrauensvotum am 22. Juni, nachdem eine der vier Koalitionsparteien das Bündnis im Protest wegen der genannten Punkte verlassen hatte. Bei vorgezogenen Neuwahlen könnten Nationalisten und russlandfreundliche Kräfte profitieren. Aber auch in Nordmazedonien kochen die Spannungen zwischen dem slawischen Staatsvolk und der großen albanischen Minderheit hoch. Angeblich bewarfen Albaner die Demonstranten an verschiedenen Stellen mit Steinen und Flaschen. Die Aggression beruht dabei auf Gegenseitigkeit.

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Noch vor einem Monat war Bundeskanzler Olaf Scholz in Skopje gewesen und hatte etwas vom gemeinsamen Geist aufgehobener Roaming-Gebühren geredet und ansonsten so getan, als sei fast alles schon in bester Ordnung, der EU-Beitritt des Landes nur noch eine Formsache, zumindest wenn es nach Deutschland geht – obwohl auch Scholz von einem hartnäckigen „Rest der Aufgaben“ wusste, die dem Land noch bevorstehen. Mit anderen Worten: Berlin will das Land unbedingt drin haben, sieht aber die vorläufige Unüberwindbarkeit der Hindernisse ein.

EU-Vorschlag als Ursache von Streit und Protest

Nordmazedonien ist ein junger Staat mit unsicherer Identität, dazu noch hat es mehrere Nachbarn, die ihm nicht grün sind. Seit 17 Jahren ist das Land EU-Kandidat. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, in diesem Fall aber gab es spezielle Hindernisse. Erst störte sich Griechenland an dem Namen der einstigen jugoslawischen Teilrepublik – ein Name, mit dem die Übernahme gewisser Symbole aus der Geschichte des antiken Makedoniens einherging (Stern von Vergina in der alten Landesflagge, die man heute noch viel sieht; Flughafen „Alexander der Große“ in Skopje, wo Alexander vielleicht nie war). Viele Griechen fürchteten zudem Gebietsansprüche auf die gleichnamige Provinz Makedonien im Norden des Landes. 2019 war endlich der Kompromiss gefunden: Das Land wurde zu Nordmazedonien, der „Stern von Vergina“ – ein Symbol der antiken Makedonen – wich einer stilisierten Sonne. Bei der Alexander-Aneignung blieb es.

In Griechenland misstrauten viele dem Abkommen und tun es bis heute. In Nordmazedonien war es ebenso wenig populär. Aber es war die Voraussetzung für die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen. Nun kommen die Forderungen Bulgariens hinzu, die wiederum mit der gemeinsamen, verworrenen Balkangeschichte zu tun haben. So soll die mazedonische Sprache als Dialekt des Bulgarischen anerkannt werden, ebenso die bulgarische Minderheit. „Hassreden“ gegen Bulgarien sollen eingedämmt werden. Das Letztgenannte wurde sofort als Zensur in Medien und sozialen Netzwerken verstanden.

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Macron soll gehofft haben, den verbesserten Beitrittsstatus von Nordmazedonien und Albanien als Erfolg seiner sechsmonatigen EU-Ratspräsidentschaft, die im Juni endete, zu präsentieren. Deshalb war er sehr aktiv bei der Ausarbeitung der neuen Vorschläge. Nun erntet das Land die Früchte – der „französische“ EU-Vorschlag ist zum Grund von Streit und Protest in dem Balkanland geworden.

Der Ministerpräsident Dimitar Kovačevski von der sozialdemokratischen SDSM würde den Vorschlag annehmen. Auch Präsident Stevo Pendarovski wäre dafür, sieht das Dokument pragmatisch: Es zu akzeptieren wäre demnach „weder ein historischer Triumph, wie das eine Lager sagt, noch ein historisches Debakel, wie andere meinen“. Doch das Volk sieht die Lage anders. Es sieht daneben so einiges anders als die Regierenden.

https://twitter.com/doxograf/status/1545700501815189504

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