<
>
Stephans Spitzen:

Deutsche Spezialität: Starrsinn statt Mut zur Korrektur

11.01.2022

| Lesedauer: 3 Minuten
Israel zeigt mit seiner Corona-Wende die Fähigkeit zur Selbstkorrektur, zur Abkehr vom eingeschlagenen Pfad, wenn er erkennbar gegen die Wand führt. Die Kultur der Selbstkritik hat den freien Westen einst ausgezeichnet.

Israel, wir erinnern uns, war von Beginn an eines der Länder, in denen man glaubte, Covid-19 mit besonders harten Maßnahmen bekämpfen zu können. Und schnell wurde das Land zum Impfweltmeister. Doch schon ab Mitte 2021 zeigte sich, dass das Virus sich nicht einschüchtern ließ – auch nicht vom „Boostern“ oder gar durch eine vierte Impfung. Mittlerweile verbreitet sich Omikron im ganzen Land mit großer Geschwindigkeit. 

Da muss was passieren! Die fünfte, sechste, siebte Impfung? Lockdown für alle, die nicht sowieso schon am Boden liegen? Einreisestopp? Ausgehverbot? Oder wenigstens Schimpfkanonaden auf all die Uneinsichtigen, diese „Extremisten, Verschwörungsideologen und Antisemiten“, wie der Vizevorsitzende der Innenministerkonferenz Thomas Strobl (CDU) intoniert, die so gefährlich seien für „unsere freiheitliche Demokratie“? Der französische Präsident will die Ungeimpften „emmerder“ (von „la merde“, die Sch…), und bei uns werden sie – weit freundlicher, oder? – als Idioten, Asoziale, Kriminelle bezeichnet, eine Minderheit, die die Mehrheit „tyrannisiert“ und „terrorisiert“ (Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery). 

[inner_post 1] Was also macht Israel? Nichts dergleichen. Ministerpräsident Naftali Bennett hat alle geltenden Beschränkungen trotz steigender Infektionszahlen gelockert oder gleich ganz aufgehoben. Gastronomie und Schulen bleiben offen, selbst Einreiseverbote gibt es nicht mehr. Warum? Hagai Levine, der Vorsitzende der israelischen Vereinigung der Ärzte für öffentliche Gesundheit: „Da Omikron so ansteckend ist, sind unsere Bemühungen, seine Ausbreitung zu stoppen, wahrscheinlich ziemlich aussichtslos.“ Die gute Botschaft: Omikron scheint weniger gefährlich zu sein, Israel verzeichnet eine niedrige Hospitalisierungsrate und kaum noch Todesfälle. Warum also an einer Politik festhalten, die sich als wirkungslos erwiesen hat? Vorbildlich. Spanien scheint nun den gleichen Weg zu gehen. 

In Israel ist offenbar noch lebendig, was den Westen einst stark gemacht hat: die Fähigkeit zur Korrektur eines einmal eingeschlagenen Wegs. Kritik und Selbstkritik haben den freien Westen ausgezeichnet – und ihn zugleich verletzlich gemacht. Glauben ist unverwüstlich – Wissen ist erschütterbar. 

Seit beinahe zwei Jahren bin ich erschüttert von all denen, die sich nicht mehr erschüttern lassen wollen. Wenn die Evidenzen sich ändern, ändert man seine Strategie. Nichts könnte logischer sein – und nichts befreiender: Zweifelt, aber verzweifelt nicht. Gegen alle Evidenzen an einer einmal gefassten Meinung festhalten, mag zwar von „Haltung“ zeugen – doch nur, wenn man Haltung mit Starrsinn verwechselt – und Denken, wie jüngst Sascha Lobo, zur „Denkpest“ erklärt.

[inner_post 2] Starrsinn aber scheint eine Spezialität deutscher Politiker zu sein. Statt Omikron als Chance zu sehen, endlich aus der Panikpandemie auszusteigen, wird weiter an der Angstschraube gedreht. Lieber wird auf diejenigen, die es leid sind, sich ihrer schlichtesten Rechte zu begeben, eingeprügelt – verbal und mehr und mehr mit dem Polizeiknüppel. Es ist zutiefst beschämend, wenn man sieht, wie die Polizei als Büttel einer Politik benutzt wird, die längst gescheitert ist. Das Demonstrationsrecht wird verweigert, die Versammlungsfreiheit eingeschränkt, und die schlaue Wendung, sich dann eben zu einem Spaziergang zu versammeln oder öffentlich einen Rosenkranz zu beten, wird kriminalisiert. Das sei ein Missbrauch des Versammlungsrechts. Moment: Man missbraucht also sein Recht, indem man es ausübt?

Zugleich aber wird in hohem Ton von der deutschen Außenministerin Demonstrations- und Meinungsfreiheit in Kasachstan eingefordert. Fällt der Doppelstandard wirklich niemandem mehr auf?

Doch! Dass es selbst in Deutschland mittlerweile offene Meuterei gegen das Maßnahmenregime gibt, ist so verblüffend wie beruhigend. Unsere Politiker scheint das jedoch lediglich zu beunruhigen. Nicht ein einziger bringt die Stärke zur Selbstkritik auf und zur Abkehr von einer längst unübersehbar an ihre Grenzen gekommenen Politik.

Angstbesessen wird zum Allheilmittel der Denunziation gegriffen: Demokratiefeinde seien da unterwegs, Rechtsextremisten und Schlimmeres. Nichts gelernt, nichts begriffen: Die Zurückweisung jeglicher Kritik an der Politik der offenen Grenzen 2015 ff. hat einst die AfD groß gemacht. 

Der Verfassungsschutz hat nun einen neuen „Phänomenbereich“ eingerichtet namens „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“.  

Zwei Einwände dagegen: Staat und Regierung delegitimieren sich soeben selbst. Vor allem aber ist der Verfassungsschutz nicht für den Schutz des Staates zuständig, sondern für den Schutz der Verfassung. Und die ist dazu da, den Bürger vor staatlichen Übergriffen zu schützen.

Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus

Ihre Unterstützung hilft uns, weiterhin kritisch zu berichten.

Einmalig unterstützen

Monatlich unterstützen

Jährlich unterstützen

Liebe Leser!

Wir sind dankbar für Ihre Kommentare und schätzen Ihre aktive Beteiligung sehr. Ihre Zuschriften können auch als eigene Beiträge auf der Site erscheinen oder in unserer Monatszeitschrift „Tichys Einblick“.
Bitte entwerten Sie Ihre Argumente nicht durch Unterstellungen, Verunglimpfungen oder inakzeptable Worte und Links. Solche Texte schalten wir nicht frei. Ihre Kommentare werden moderiert, da die juristische Verantwortung bei TE liegt. Bitte verstehen Sie, dass die Moderation zwischen Mitternacht und morgens Pause macht und es, je nach Aufkommen, zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Hinweis

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken